Oberhausen. Im randvollen Gdanska verwandeln die Geschwister Beckmann plus Charly Hübner den Literaten Ralf Rothmann in einen verkannten Humoristen.
Sofas sollten nie zu groß sein: Wenn’s so richtig schön eng wird, dass die vier „Spielkinder“ plus Verstärkung sich ständig gegenseitig knuffen, anrempeln und fast ineinander verknoten können – dann laufen die Geschwister Beckmann erst zu Höchstform auf. Schließlich ging’s ihrem schrill entzückten Publikum im gestopft vollen Saal des Gdanska genauso. Und die unbequemen Klappstühle waren in den ersten Minuten von „Groß, größer, am kleinsten – ein Ralf Rothmann-Abend“ vergessen.
Schließlich haben die Gastgeber vom Literaturhaus noch viel vor mit dem bedeutendsten Suhrkamp-Autor, der je am Tackenberg aufgewachsen ist – und mit den nicht minder genialen Spielkindern. „Wir wollen Ralf Rothmann mehr in die Stadt holen.“ Hartmut Kowsky-Kawelke, der Literaturhaus-Vorsitzende, versprach: „Wir bleiben dran.“ Zunächst aber zeigten Lina und Maja, Nils und Till Beckmann, Jennifer Ewert und Charly Hübner sowie die Musiker Sebastian Maier, Kay und Jens Schilling, wie „Lesung“ ganz anders gehen kann.
Ein Zisselmännchen ans alte Lesungsformat
Gelegentlich klappte die verwegene Truppe in schrillbunter Schlabbergarderobe zwar auch gewaltige Mappen vor sich auf – doch meistens waren diese und andere Utensilien (man denke an Wassergläser und Lesebrillen) schnell wieder verschwunden. Schließlich brauchen diese Spielkinder sowohl Nähe als auch ausgelebten Bewegungsdrang. Szenen aus Ralf Rothmanns Sterkrade-Romanen von „Milch und Kohle“ bis „Junges Licht“ (das nach dem Drehbuch von Nils und Till Beckmann mit Charly Hübner verfilmt worden war) verquirlten die Spielkinder zu einer tolldreisten Collage über Kindheit und Jugend im Revier – und legten damit ein knalliges Zisselmännchen ans altüberlieferte Lesungsformat.
Mit schauspielerischem Überschwang fiel man sich ins Dichterwort, sorgte mit atmosphärischer Lo-Fi-Musik und übersteuerten Soundeffekten für knallige Pointen: So nämlich an einem katastrophalen ersten Schultag, als erst die Schiefertafel zerbrach und sich Lina Beckmann als Winnie in einen unübertrefflichen Heulkrampf steigerte – bis das tropfende Kind von seiner strengen Mama aus der Klasse abgeführt wurde. So kitzelten die grandiosen Beckmanns den Klamauk aus einem Text, der eigentlich von der Angst des Kindes vor einem Umbruch in seinem Leben erzählt.
Oder vom speziellen Klassen-Bewusstsein der Wirtschaftswunderjahre: So wird der Besuch in der superengen Zweizimmerwohnung eines Klassenkameraden zur Offenbarung: In der Miniatur-Landschaft rund um dessen Modelleisenbahn (für den Märklin-Werbefilm im Hintergrund gab’s Extra-Applaus) „stammte nicht ein Gebäude aus dem Klebekasten“. Jedes Häuschen und Bäumchen selbstgebastelt: Kleinkunst aus Armut.
Gekonnter Drall gen Albernheit
Charly Hübner musste sich in dieser hochtourigen Truppe erst zum Klamauk verführen lassen – meist genügt ihm ja seine bärige Präsenz. Doch als wie ein erboster Truthahn kollernder Musiklehrer, der seine Klasse mit „Freut euch des Lebens“ und einem Metalllineal quält, zeigte auch Lina Beckmanns Ehemann einen gekonnten Drall gen Albernheit.
Klar, könnte man diese Jugend-Episoden bei Ralf Rothmann auch ganz anders lesen. „Die Jahre im Ruhrgebiet waren eigentlich eine Zeit der Gewalttätigkeit“, sagte der heute 69-Jährige in einem raren „Spiegel“-Interview. „Alles war brutal, auch die Sprache.“
Räudige Alltagssprache und präzise Beobachtung
Wenn allerdings Lina Beckmann als bissiger Jungmacho das neue Outfit („aus der Mata Hari-Boutique!“) vorführt und sich mit Gusto von einer eckigen Pose in die nächste wirft, wird das Bedrohliche eher zu einer kreischvergnügten Feier von Rothmanns Kunst, räudige Alltagssprache mit präziser Beobachtung zu verschmelzen. Und dieser Blick übersah auch nicht die schönsten modischen Verirrungen des Schlaghosen-Zeitalters.
„Du bist jung, das ist der Punkt.“ Der oft qualvollen Zeit überschießender Hormone gaben die Spielkinder durchaus Nuancen. Den kratzigen Bass eines biestigen Opas hätten der zarten Maja Beckmann wohl die wenigsten zugetraut. Und der Sprung in eine Szene am Lebensende (aus „Milch und Kohle“) kam unvermittelt zu fahlen Dias von Doppelhaushälften: „Wehe dem, der nicht im Schutz der Liebe altert.“
Gelesen in bestürzender Sachlichkeit
Simon dreht für seine sterbende Mutter am Rädchen des Infusionstropfes für das Schmerzmittel, „entfernt die eitrigen Kompressen“. Charly Hübner liest die Szene in bestürzender Sachlichkeit – die der Romancier auch noch mit dem Sterben des alten Reviers verbunden hat: Er „blickte aus dem Fenster auf den Förderturm am Horizont. Man hatte das Rad entfernt, die Kühltürme geschleift, die Halden abgetragen.“
Vielen wäre diese Szene wohl zu Kitsch missraten. Doch die Spielkinder hielten auch für beklemmende Momente ihr Publikum auf der Stuhlkante – und durften sich nachdrücklich feiern lassen.