Ralf Rothmann hat ein neues Buch geschrieben: „Der Gott jenes Sommers“ führt nach Norddeutschland, hinein in die Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Ralf Rothmann, der 1976 das Revier verließ, kehrte in Romanen und Erzählungen oft zurück zu jenen Tagen, da der Himmel über der Ruhr noch nicht blau war. Sein neuer Roman „Der Gott jenes Sommers“ aber führt nach Norddeutschland, in die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. Er bringt ein noch tieferes Graben in Rothmanns Herkunft. Weil der Vater, Bergmann in Oberhausen, beharrlich über die Traumata des Weltkriegs schwieg, spürte Rothmann 2015 dem Schweigen mit der Figur des Soldaten Walter Urban nach – „Im Frühling sterben“ hieß der Roman. Walter begegnet uns nun wieder: Als Melker auf einem Hof, der die zwölfjährige Luisa neckt. Und dann gen Krieg verschwindet.
Luisa ist die Heldin: Ein lesendes, nachdenkliches Mädchen steht der Erwachsenenwelt so staunend gegenüber wie einst Julian in „Junges Licht“ – eine Perspektive, die Rothmann trefflich beherrscht. Woher bekommt der Perückenmacher seine Haare? Warum leuchtet der Himmel über Kiel nachts so rot? Wieso hausen zerlumpte Menschen im Stall?
Einmal mehr geht es ums Erwachsenwerden: Staunend beobachtet Luisa das Treiben der älteren Schwester Sibylle, die mit SS-Leuten anbandelt, teure Strumpfhosen und Nagellack trägt. Beobachtet die giftige, schwangere Stiefschwester Gudrun und deren Mann Vinzent, einen ranghohen Nazi, dessen Verbindungen Luisas Familie den Unterschlupf auf dem Hof verschafft haben, was Vinzent ein Übermaß an Macht verschafft. Wenn Luisa bang fragt, wie es wohl ist, vergewaltigt zu werden, von dem bösen Russen etwa, lässt sich ahnen, mit welch gewaltigen und gewalttätigen Drama Luisas Kindheit enden wird. Dann wird sie einen Satz sagen, der nachhallt: „Ich habe alles erlebt.“
Präzise begibt sich Rothmann wieder in die Kriegsjahre, setzt höchst sinnlich die Unversehrtheit der Natur in Kontrast zu einer Welt, die aus den Fugen geriet. Und findet Hoffnungsschimmer, gar Erhabenheit, noch im ärgsten Schmutz. „Im Frühling sterben“ entwickelte Kraft durch Walters unschuldige Schuld, den besten Freund auf Befehl erschossen zu haben. Dieser Konflikt aber fehlt nun; nie müssen wir uns fragen: Was hätte ich getan?
Als ahnte er dies, erzählt Rothmann in Einschüben in altertümlicher Sprache ein historisiertes, beinahe mystisches Drama, in dem eine Kirche auf einem Floß verschifft wird – und sinkt. „Mag der Gott dieses Sommers unsere Nähe auch verschmähen“, heißt es, „kann er sich denn weiter entfernen als der Gedanke, der ihm gilt?“ Dies wirft die Frage auf, die den Roman grundiert: Können wir noch an einen Gott glauben, der dies alles zuließ? Rothmanns Antwort ist das poetische Heilsversprechen staunenswerter Literatur. Und damit wohl: ein Ja.