Oberhausen. Erwin Polny beteiligt sich Jahrzehnte meinungsstark im Oberhausener Karneval. Zur Prunksitzung seiner AOK Weiß-Rot gab es nun eine Überraschung.

Das Programm-Heft sieht noch lange nicht nach Konfetti aus, sondern ist für seine 70 Jahre noch gut in Schuss. Erwin Polny deutet aufs leicht vergilbte Papier. „Karnevalistische Sitzung mit Maskenfest“ steht dort: 7. Februar 1953. Es ist der Werkskarneval der Rheinischen Polstermöbelwerke Carl Hemmers. Polny ist damals noch Lehrling, steckt plötzlich schunkelnd und staunend mit 900 Menschen im größten Saal der Stadt. Sein Chef hat ihn hineingelotst.

Austragungsort ist das bis heute noch bekannte „Hotel Kaiserhof“ in Sterkrade an der Tirpitzstraße - 1973 abgerissen. Der Eintrittspreis von zwei D-Mark wirkt im Vergleich zur Gegenwart (meist knapp 30 Euro) wie ein Fabelpreis. Heute ist Erwin Polny fast 90 Jahre alt - und hat das Schunkeln nicht aufgegeben. Er sitzt am Samstag im Ebertbad bei der Narrensitzung der Alten Oberhausener Karnevalsgesellschaft (AOK), in die er zehn Jahre nach dem wegweisenden Besuch im Sterkrader Kaiserhof eintritt.

Seine Aktivenzeit symbolisieren auf der Bühne goldene Luftballons in Form einer 60. Er erhält eine Urkunde - und Applaus. Eine Luftnummer waren die Zeiten des gelernten Industriekaufmanns und späteren Möbelkaufmanns nie. Oder wie der ehemalige NRZ-Redakteur Gustav Wentz in seiner Laudatio formuliert, Polny stand und steht für: „Zusammenhalt. Zusammenstehen. Zusammenbleiben.“

Jecker Tausendsassa: Geschäftsführer, Senator - und Aushilfs-Minister

Die Narrensitzung der AOK Weiß-Rot von 1889 nimmt am Samstag Fahrt auf. Polny sitzt vorne am ersten Tisch. Und wenn man ihn beim Klatschen beobachtet, meint man, er könnte zu jedem Programmpunkt etwas erzählen. Könnte? Er kann!

Natürlich habe sich der Karneval verändert: „Vor 20, 30 Jahren saß ich in der großen Stadthalle noch in der Bühnenbesetzung“, sagt er und zeigt auf das viel kleinere Ebertbad. Auf dessen Bühne würde kein Elferrat mehr wie früher Platz haben, denn jeden Zentimeter hier nutzt bereits die 60 Frau und Mann starke Prinzengarde von Stadtprinz Rainer I. akribisch aus. Er sagt es ohne Groll. Andere Zeiten, andere Narren-Sitten - und Sitzungen.

Er weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig es auf dem spiegelglatten Narrenparkett ist, denn er leitete selbst eine Sitzung, zur Jahrtausendwende. Damals brachten die Höhner das noch heute beliebte Stück „Pizza Wundaba“ (Genau: Oh, là, là, willst du eine Pizza…) heraus. Anfang der 1960er-Jahre engagiert sich Polny erstmals im Elferrat, wird später Geschäftsführer, Senator - springt 1970 sogar für 14 Tage als Minister im Stadtprinz-Gefolge von Udo I. (Wendt) ein.

Er baut ein umfangreiches Archiv von Karnevalserinnerungen auf. Selbst die mit dem Füller handgeschriebenen Spickzettel, nein, stabilen Spickkarten seiner Dankesrede, zieren das Vereins-Logo der AOK. Alte Schule!

Vielfalt der Vereine ist für Polny ein großes Plus

Auf der Ebertbad-Bühne tritt gerade die weiß-rote Tanzgarde auf. Die Mädchen warten gedanklich versunken in der Lobby. Gehen im Kopf alle Schritte durch. Einige steigen nervös von einem auf den anderen Fuß.

Polny kann die Aufregung nachfühlen: Seine erste Bühnenerfahrung, sozusagen als Künstler, sammelt er 1964 bei der Jubiläumsveranstaltung „75 Jahre AOK“. Mit dem Stadttheater inszenieren seine Weiß-Roten ein Männerballett. Und so etwas schüttelt man weder einfach so aus Ärmeln noch aus dem Fuß. „Wir hatten 25 Stunden Ballett-Unterricht. Die Menschen haben so sehr gejohlt, dass wir die Musik nicht verstanden haben.“

Ein Tusch im Hintergrund! Die AOK-Sitzung im Ebertbad wechselt von Stimmungstrompeter Lutz Kniep auf Büttenredner Dave Davis. Dessen Scherze kommen an. Woanders fallen Humoristen aber immer häufiger durch. Manche Vereine streichen die Büttenredner lieber einfach aus dem Programm. Viele Besucher wollen heute lieber Party als Traditionskarneval.

Wie sieht er diese Wende im Karneval? Polny: „Der eine liebt Döner, der andere Pizza, wiederum andere das Filet. Es kommt auf den Geschmack des Publikums an.“ Für Polny gehören Büttenredner aber dazu: „Reden und karnevalistischer, rheinischer Gesang sind die Grundlagen einer Karnevalsveranstaltung. Das bringt Emotionen!“

Apropos Emotionen. Polny erinnert sich gut an den „Der Ball der Narr’tionen“ am Karnevalssamstag in der Stadthalle. Zu Spitzenzeiten musizierten hier sieben Bands - bis in die 1970er Jahre. Ein Karneval international, weil der Ball damals mit dem Abschluss der Kurzfilmtage einherging und viele Filmfest-Besucher vorbeischauten. Die Gäste bereiteten sich penibel darauf vor: „Modegeschäfte und Friseure spürten das in Oberhausen in der Kasse.“

Erfahrener Narr wünscht sich mehr Engagement an Schulen

Wie sieht der erfahrene Narr die Entwicklung des Karnevals? „Brauchtum und Feiern sind zwei Paar Schuhe. Wir sollten Karneval nicht nur von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch betrachten, sondern ihn als gesellschaftliche Aufgabe das gesamte Jahr sehen - auch in den sozialen Bereichen.“

Die Zahl der Vereine hat in Oberhausen stark zugenommen, was Polny positiv findet. „Die Vielfalt ist dadurch größer geworden. Ich finde es beeindruckend, dass viele Gesellschaften Wert auf junge Leute legen.“ Polny würde sich wünschen, dass der Hauptausschuss Groß-Oberhausener Karneval stärker auf die Schulen zugeht. „Um zu zeigen, wo der Ursprung der Kostüme liegt. Wie das Brauchtum entstanden ist.“

An Schlagersängern in Narrensälen scheiden sich die Geister. „Man richtet sich nach dem Publikum“, sieht Polny ein. Aber vieles werde unter dem Deckmantel Karneval versteckt. In Köln gebe es bereits Flüstersitzungen, wo keine elektronischen Instrumente zu hören seien. „Über so etwas würde ich mich in Oberhausen freuen - zum Beispiel im Gdanska.“

Tata! Im Ebertbad beginnt das Finale: Als berühmte Musiker verkleidete Vereinsnarren fegen durch den Saal. Polny lacht: „Das ist echter Karneval!“

>>> Weiss-Grün Hoag und Müllschlucker zum Finale

Der Saal-Karneval biegt auf die Zielgerade ein. Die KG Weiss-Grün Hoag bittet am letzten Wochenende vor den tollen Tagen mit einer Prunksitzung in die Stadthalle. Mit dabei sind die Gruppen Kaschämm und Drecksäck. Am Samstag, 11. Februar 2023, geht es um 19 Uhr los. Karten: 28 Euro.

Die LGK „Die Müllschlucker“ feiert am gleichen Tag ebenfalls ab 19 Uhr im Ebertbad mit der Band Kärnseife und der Travestie-Comedy „Chanell Devero Show“. Karten kosten hier 25 Euro.