Oberhausen. Diese Landesgeschäftsstelle hütet nicht nur Akten: In Oberhausen erzählen viele persönliche Nachlässe von Verfolgten des Naziregimes.

Widerstand gegen organisierte Unmenschlichkeit wirkt, gut getarnt, selbst im klitzekleinen DIN A 6-Format: „Warum nicht ein Musikinstrument?“, fragt harmlos-betulich das Titelbild einer Broschüre aus den 1930ern – als wär’s Werbung für Klavier- oder Geigenstunden. Doch drinnen enthalten die eng bedruckten Seiten die Wortgewalt von Georgi Dimitroff (1882 bis 1949) während des Prozesses um den Reichstagsbrand.

Dem bulgarischen Kommunisten (und späteren Staatschef), der 1933 illegal in Berlin lebte, war es mit überragender Rhetorik gelungen, selbst den preußischen Ministerpräsidenten und NS-Bonzen Hermann Göring immer wieder in die Rolle des Angeklagten zu drängen. Vom Vorsitzenden Richter ist die Bemerkung überliefert: „Im Ausland ist man schon der Meinung, dass nicht ich, sondern Sie die Verhandlung leiten!“ Wer das Plädoyer dieses vermeintlichen Brandstifters während der Jahre der Nazi-Tyrannei weiter verbreitete, musste mit Haft oder Schlimmerem rechnen. Doch in zwei Archivräumen an der Marktstraße 165 bewahrt Gisela Blomberg eine Vielzahl an eindrücklichen Belegen für Mut und jene Loyalität im Geiste Dimitroffs, der vor seinen Richtern sagte: „Ich verteidige den Sinn und den Inhalt meines Lebens.“

Archivarin Gisela Blomberg mit der Festschrift zur Gründung des VVN in Nordrhein-Westfalen: In Düsseldorf hatten sich im Oktober 1946 über 500 Delegierte versammelt.
Archivarin Gisela Blomberg mit der Festschrift zur Gründung des VVN in Nordrhein-Westfalen: In Düsseldorf hatten sich im Oktober 1946 über 500 Delegierte versammelt. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Seit vier Jahren, seit dem Umzug der Akten, Dokumente und Bücher aus Wuppertal, betreut die Historikerin aus Düsseldorf das Archiv des VVN-BdA Landesverbandes. Blombergs engagiert zur Oberhausener Zeitgeschichte forschender Historiker-Kollege Klaus Oberschewen dürfte dem Kürzel in der Stadt etwas Bekanntheit verschafft haben: Die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“, so der vollständige Name, zählte vor 75 Jahren in ihrem Gründerkreis den späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer neben Heinz Galinski, viele Jahre Vorsitzender des Zentralrats der Juden, oder Eugen Kogon, der mit seinem Buch „Der SS-Staat“ die erste historische Analyse des NS-Terrorsystems vorgelegt hatte. Geschichtsbewusste Oberhausener kennen als VVN-BdA-Vorsitzenden den katholischen Geistlichen Joseph Rossaint, der als Kaplan in St. Marien wirkte.

„Alltägliche“ Dokumente von Verfolgung und Widerstand

Doch es sind weniger die Schriften der prominenten Persönlichkeiten aus den Reihen des in seinen frühesten Jahren 300.000 Mitglieder starken Bundes, die man heute als „Schätze“ im Bestand dieses Archivs betrachten kann. Bewegender und für die Forschung kostbarer sind jene „alltäglichen“ Dokumente von Verfolgung und Widerstand. Die ehrenamtliche Archivarin zeigt den Brief eines niederländischen Gefangenen im KZ Dachau, geschrieben in deutscher Sprache: „Er durfte nur mitteilen, dass es ihm gut geht.“ Weitere Archivkartons aus säurefreier Pappe bewahren ein Gerichtsurteil wegen „Hochverrats“, mit Band und Siegel, oder – auf bereits brüchigem Papier – Exemplare des im Untergrund vervielfältigten „Ruhr-Echo“ (der Bindestrich im Titel gestaltet als roter Stern).

Kleine Restaurierungsarbeiten übernimmt Gisela Blomberg selbst: Risse am brüchigen Brieffalz „heilt“ sie mit Japanpapier und dem kleinen Papier-Bügeleisen.
Kleine Restaurierungsarbeiten übernimmt Gisela Blomberg selbst: Risse am brüchigen Brieffalz „heilt“ sie mit Japanpapier und dem kleinen Papier-Bügeleisen. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Es sind zu einem großen Teil persönliche Nachlässe, die mittlerweile die Kinder oder Enkel der vom NS-Terror Verfolgten an das Archiv geben. „Der Bestand wächst immer noch“, sagt Gisela Blomberg. 8000 Dokumente hat sie inzwischen digital erfasst. 10.000 Signaturen zählt sie insgesamt – allerdings kann eine Signatur auch dutzende einzelner Papiere umfassen. Schließlich ist es das Archiv einer mitgliederstarken Organisation, die zudem etliche Gerichtsstreitigkeiten auszufechten hatte, nicht nur in der restaurativen Adenauer-Zeit. Denn sowohl die Spitzen von CDU wie SPD wollten ihre Mitglieder mit „Unvereinbarkeits“-Beschlüssen zum Austritt aus der VVN zwingen.

Eindringliche Porträtzeichnung eines „Moorsoldaten“

Gisela Blomberg zitiert aus dem „Schwur von Buchenwald“, aus jenem Gelöbnis das sich die befreiten Gefangenen in Weimar gegeben hatten: den „Aufbau einer Welt des Friedens“. Sie selbst habe „keine Familie, die im Widerstand war“, sondern fand als Historikerin zum „Bund der Antifaschistinnen“. Klara Tuchscherer, ihre Vorgängerin als ehrenamtliche Archivarin, ist dagegen die Tochter eines „Moorsoldaten“. Die eindringliche Porträtzeichnung eines Zwangsarbeiters und „Lagerältesten“ im Emsland zählt ebenfalls zu den besonderen Dokumenten der Jahre 1933 bis ‘45.

Wer mit bis zu 90 Jahre alten Papieren arbeitet, weiß um die konservatorischen Mühen: „Kleine Restaurierungen übernehme ich im Archiv selber“, sagt Gisela Blomberg. Seminare für Ehrenamtler besuchte sie an der Archivschule in Marburg; zudem unterstützt eine Abteilung des Landesverbandes LVR nichtstaatliche Archive bei der Grundausstattung. Inzwischen stößt das Zwei-Räume-Archiv in der vierten Etage an Kapazitätsgrenzen. Gisela Blomberg empfiehlt Angehörigen nun auch, Nachlässe an Stadtarchive zu geben.

Vor-digitale Buchführung: Ein Mitgliederausweis der VVN voller Marken für die geleisteten Monatsbeiträge.
Vor-digitale Buchführung: Ein Mitgliederausweis der VVN voller Marken für die geleisteten Monatsbeiträge. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Allerdings wissen Forschende längst, dass sich mit Archivalien aus der Marktstraße 165 eindrucksvoll „Geschichte von unten“ belegen lässt. „Über Anfragen“, sagt Blomberg, „lerne ich selbst das Archiv noch genauer kennen“. Stolz verweist sie auf jene Neuerscheinungen von Historikern, die mit Quellen vom VVN-BdA gearbeitet haben und im Gegenzug Belegexemplare schickten. Klaus Oberschewen, den der Umzug dieser Bestände nach Oberhausen besonders gefreut hat, sagt: „Wir sind die Zeitzeugen der Zeitzeugen: Wir haben diese Menschen noch gekannt.“

In Oberhausen mutig Untergrund-Zeitungen verteilt

Menschen wie Lisbeth Jansen, die in Oberhausen mutig Untergrund-Zeitungen verteilt hatte. Kennengelernt hatte der Historiker sie, weil sie allmonatlich vorbeikam, um die Mitgliedsbeiträge für die VVN einzusammeln: Alte Ausweisheftchen samt der ordentlich Monat für Monat eingeklebten Marken sind nicht nur Verbands-Historie: Es wären auch bildhafte Exponate für jede Ausstellung zur vor-digitalen Kommunikation.

Forschende erkunden auch die Nachkriegszeit

Als ehrenamtliche Hüterin des Archivs ist Gisela Blomberg nicht jeden Tag in der Landesgeschäftsstelle der VVN-BdA anzutreffen. Wer das Archiv nutzen möchte, sollte einen Termin per Mail an landesarchiv.nrw@vvn-bda.de vereinbaren.

Anfragen gebe es „mit steigender Tendenz“, sagt die Archivarin. Inzwischen widmen sich mehr Forschende auch der Nachkriegszeit und erkunden jene frühen Ansätze einer Gedenkkultur, deren offizielle Seite sich bis weit in die 1960er – etwa im Schulunterricht – auf die Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944 beschränkt hatte.