Oberhausen. Im Zentrum des Buches „Zwangsarbeit und Befreiung“ steht Andries ter Brugges bereits 1947 geschriebener Text über seine Zeit als Zwangsarbeiter.
„Niemand sollte ein Sklave sein – und ich war ein Sklave.“ Andries ter Brugge kämpft bei diesem Satz kurz mit den Tränen. Unter dem Titel „Zwangsarbeit und Befreiung“ sind nun die „Erinnerungen an Oberhausen 1943 bis 1945“ des heute 95-Jährigen aus Vlaardingen bei Rotterdam im dritten Studienband der Gedenkhalle erschienen. 150 Seiten stark ist das mit vielen Fotos und Dokumenten ausgestattete Buch aus dem Verlag Karl Maria Laufen. 30 Seiten umfasst jener Bericht, den Andries ter Brugge zunächst nur für sich 1947 als junger Mann aufgeschrieben hatte.
Wie „dieses wertvolle Dokument“, so Clemens Heinrichs als Herausgeber des Buches und Leiter der Gedenkhalle, überhaupt nach Jahrzehnten ans Tageslicht kam, ist eine anrührende Geschichte für sich – die der jüngere Sohn des Autors erzählt. Jeroen ter Brugge, Kurator für „Maritime Sammlungen“ am Rijksmuseum in Amsterdam, hatte schon als Kind mehr wissen wollen. Schließlich bewahrte der Vater einige Erinnerungsstücke auf – von amerikanischer Fallschirmseide bis zum Abschiedsgruß seines US-Kommandanten Harry F. Kies für „Andy, einen meiner besten Soldaten!“ Auch der kurze Dienst Andries ter Brugges als Übersetzer für die 17. US-Luftlandedivision während der ersten Nachkriegswochen gibt diesen „Erinnerungen an Oberhausen“ einen besonderen Wert.
„Zerstörte Häuser, versperrte Straßen, Schmutz und Trümmer“
Doch die ersten, naiv formulierten Fragen des Schülers an seinen Vater endeten in Verstimmung und Schweigen. „Vor 15 Jahren wollte ich es wissen“, erzählt der heute 52-jährige Jeroen ter Brugge. Sein Vater war bereits 80 Jahre alt, als er seinen der Familie unbekannten Bericht hervorholte. Gemeinsam machte man sich auf den Weg nach Oberhausen, das jetzt ein ganz anderes Bild bot als im Juli 1943 für den 19-Jährigen: „Zerstörte Häuser, versperrte Straßen, Schmutz, Glas und Trümmer“. In der Gedenkhalle, von der Vater und Sohn jetzt zum ersten Mal erfuhren, ermutigte Clemens Heinrichs den Zeitzeugen zu berichten.
Er besuchte 2009 die Eheleute Mia und Andries ter Brugge für ein ausführliches Video-Interview. „Man kennt sich, man vertraut sich“, sagt der Leiter der Gedenkhalle. Auch in der niederländischen Gesellschaft änderte sich nach Jahrzehnten, während derer die Zwangsarbeiter wie „Kollaborateure“ angesehen wurden, die zuvor verächtliche Haltung. Stiftungen bemühten sich, die Erinnerungen der Zeitzeugen zu dokumentieren. Und Jeroen ter Brugge überzeugte seinen Vater, dass seinem so kurz nach Kriegsende verfasstem Text eine besondere Bedeutung zukommt: „Es gab hunderttausende Andere, die nichts aufgeschrieben haben.“
„Heute hätte ich manches anders formuliert“, sagt der 95-Jährige in seinem ausgezeichneten Deutsch. Er habe damals „im Zorn“ geschrieben – gebündelt in dem Satz: „Wir waren Menschen zweiter Klasse und blieben es“. Der bittere Schluss seines Berichts galt der Geringschätzung durch seine Landsleute – wohl auch ein Grund, warum der junge Verwaltungsangestellte zunächst für einige Jahre in der indischen Metropole Bombay lebte, um dort für eine niederländische Schifffahrtsgesellschaft die kriegszerrüttete Buchhaltung in Schuss zu bringen.
„Der Verlust von Eigentum zählte so wenig“
Auch als Zwangsarbeiter in Oberhausen zählte Andries ter Brugge zu den „Schreibtischfritzen“, wie er selbstironisch schreibt, in Dienst genommen von Babcock. Nach dem Tod seines Vaters war der 19-Jährige bereits der Ernährer für seine Geschwister und Stiefmutter. Seine Aufzeichnungen „in seltener Offenheit und Differenziertheit“, wie Clemens Heinrichs betont, erwähnen kaum die Kriegsindustrie – aber umso eindrücklicher den Bombenkrieg. „Der Verlust von Eigentum zählte so wenig“, schrieb er 1947. „Man lebte so viel intensiver.“ Der Text ist auch eine herzliche Danksagung an die „beste Freundin“ Gertrud Lagies: „Ohne sie hätte ich den Schlamassel niemals überlebt.“ Mit langen Gesprächen überstanden sie die Nächte in den als Bunker dienenden Gängen der Schlackenberge.
Wissenschaftliche Essays ergänzen Erinnerungstexte
Zwei weitere Autoren ergänzen in „Zwangsarbeit und Befreiung“ die Texte von Andries und Jeroen ter Brugge: Neben Herausgeber Clemens Heinrichs schreibt Christian Kuck aus Sicht des Historikers über „Zwangsarbeit und Arbeitseinsatzpolitik in den besetzten Niederlanden“.
Er entkräftet auch jenen Vorhalt vieler Niederländer, der Andries ter Brugge lange Zeit zusetzte – die verhasste Frage: „Warum seid ihr nicht untergetaucht?“ Das hätte dem Widerstand bei über 400.000 Zwangsarbeitern niemals gelingen können. „Deshalb ist dieser Vorwurf sehr ungerecht“, so Kuck.
Der dritte Band der „Studien der Gedenkhalle“ erscheint erneut im Verlag Karl Maria Laufen, schön ausgestattet und für 18 Euro. In Band 2 publizierte Clemens Heinrichs 2015 die „Erinnerungen eines ukrainischen Zwangsarbeiters“ – Iwan Tkatsch alias Alex Boiko.
Gertrud Lagies, die 1998 verstarb, hatte der Familie ter Brugge noch viele Jahre Weihnachtsgrüße aus Oberhausen nach Vlaardingen geschickt.
Jeroen ter Brugge ist überzeugt, dass der vor 72 Jahren aufgeschriebene Bericht seines Vaters auch für einen niederländischen Verlag interessant wäre: „Es gibt wenige Texte aus der Zeit von solcher Länge und Tiefe.“ Clemens Heinrichs und Laufen-Verleger Wilhelm R. Kurze wollen helfen: „Wir haben darüber schon gesprochen.“