Oberhausen. Seit Mitte März bringt die Stadt Geflüchtete in der Willy-Jürissen-Halle unter. Warum sie die Notunterkunft nur ungern verlassen.
„Danke, danke.“ Anna Serjhienko macht eine unterwürfige Geste. „Ich bin Deutschland sehr dankbar“, übersetzt Anna Almouhana vom Roten Kreuz, was die Ukrainerin ständig wiederholt. Sie sei dankbar für das Dach über dem Kopf, das gute Essen. Alles so sauber, die Menschen so freundlich. Die 72-Jährige führt die Hände abwechselnd zum Mund und verteilt Luftküsse. In ihren Augen schimmern Tränen. Über das, was sie erleben musste, bevor sie mit zwei Töchtern und einem Enkelkind in eine Oberhausener Sporthalle geflüchtet ist, kann die Rentnerin aus Nowa Kachowka nicht sprechen. Sie habe lange gehofft, dass es besser wird, sagt sie, doch dann überkommt sie wieder die Traurigkeit und sie muss aufstehen und gehen. Dabei gibt es kaum Raum für einen Rückzug für sie. In der Willy-Jürissen-Halle leben zurzeit 220 Menschen auf engstem Raum nebeneinander. Ohne Küche, ohne Bad, ohne Privatsphäre. Dennoch scheint bei unserem Besuch in der Notunterkunft für Geflüchtete niemand verärgert darüber zu sein.
Dies hier ist eine Sportstätte, das ist eindeutig. Die aufsteigende Tribüne mit den Sitzen linker Hand, an der Wand die Anzeigetafel für den Punktestand von „Gast“ und „Heim“, auf der nur die Uhrzeit rot aufleuchtet. Doch unten, wo sich sonst Mannschaften im Wettkampf messen: ein Meer an cremefarbigen Paravents. Nummern zeigen an, wo ein Abteil endet und ein neues beginnt. Was sich dahinter verbirgt, bleibt unsichtbar, nur hier und da lugen Dinge hervor; eine Chipstüte, Frühstücksflocken, ein Blümchen im Plastikbecher; die deutlich machen: Hier wohnen Menschen. Handtücher wurden zum Trocknen über die Wände aus Stoff geworfen. Es ist erstaunlich still, obwohl so viele Kinder umherwuseln.
Erinnerungen an die Heimat: ein gutes Leben am großen Fluss
„Wir wundern uns, dass Deutschland das alles für uns macht.“ Dmytro Cherepanov scheint beeindruckt. „Dass der Staat es schafft, jedem zu helfen. Wir sind sehr dankbar dafür.“ Der 54-Jährige Dachdecker hat zusammen mit seiner Frau in der Region Cherson ein Familienunternehmen geführt. „Wir hatten ein schönes Leben“, sagt Svitlana Cherpanova. Ihr Zuhause liegt am Ufer des Dnepr, nach Wolga und Donau der drittlängste Fluss Europas. Sie hatten ausgeharrt, bis Mitte Juli noch. Da hatte die russische Armee ihre Stadt bereits seit zwei Monaten eingenommen. Doch die Lage wurde unerträglich. „Auf den Straßen liefen betrunkene Soldaten herum. Sie haben auch geschossen“, sagt Dmytro Cherepanov. „Wir hatten Angst, ukrainisch zu sprechen“, fügt eine Freundin der Familie, Zhanna Bodnar, hinzu. Die 35-Jährige zeigt auf dem Handy Fotos ihrer Heimat, die sie vor Kriegsbeginn bei Instagram gepostet hat. Romantische Sonnenuntergänge und eine Aufnahme von ihr im Lemurianischen See, einem Naturphänomen in Rosa, auch „Totes Meer der Ukraine“ genannt.
Wenn sie ihr altes Leben mit ihrem jetzigen vergleichen, sei das schon schwer, sagen die drei Geflüchteten, die nicht die einzige Schicksalsgemeinschaft in der Sporthalle an der Goebenstraße sind. „Aber wir haben die Hoffnung, dass der Krieg aufhört und wir zurückgehen können“, sagt Svitlana Cherepanova. Sie zeigt auf ihre Handtasche; den Schlüssel zu ihrem Haus trägt sie immer bei sich. Aber sie sei auch realistisch: „Im Moment geht es nicht. Wir müssen hier bei Null wieder anfangen.“ Ein Bankkonto, eine Krankenkassenkarte, eine Wohnung haben sie organisieren können. Bald werden sie ihre provisorische Bleibe verlassen. Dann wollen sie Deutsch lernen und Arbeit suchen, so schnell wie möglich. Über die Zustände in der Sporthalle kommt auch ihnen kein böses Wort über die Lippen: „Es ist nicht leicht, aber allen hier geht es wie uns. Wir ertragen das hier gemeinsam.“
Lieber im Stockbett mit Fremden statt einsam im Hotelzimmer
Marcel Tersteegen, der als Fachbereichsleiter bei der Stadt für die Unterkünfte der Geflüchteten zuständig ist, erstaunt diese Einstellung nach sechs Monaten Ukraine-Krieg immer noch. Mehrfach habe er angeboten, jemandem ein Zimmer im nahe gelegenen Residenz-Hotel zu besorgen, „mit einem eigenen Zimmer und eigenem Bad“. Doch es wurde abgelehnt. Die Bewohner wollten lieber hier bleiben, wo Duschen und Toiletten in Containern untergebracht sind, wo das Essen drei Mal täglich geliefert wird, weil es keine Kochmöglichkeit gibt und wo die Nachtruhe davon abhängt, wie rücksichtsvoll sich die vielen Menschen ringsum verhalten, von denen man nur durch Stofffetzen getrennt daliegt. „Das ist schon faszinierend“, sagt Marcel Tersteegen. Khaled Aljabr, der als Sozialarbeiter fürs Rote Kreuz die Unterkunft leitet, hat selbst eine Flucht-Geschichte und kann die Entscheidung der Menschen verstehen. „Die Sporthalle ist zentral gelegen, man kommt schnell zu den Ämtern, viele haben ihre Kinder an der Schule hier angemeldet und wir haben Integrationskurse und Deutschunterricht im Haus.“ Und: „Sie mögen das Team, das sich um sie kümmert.“
Auf dem Gang zwischen den Schlafstätten – je zwei weiße Holz-Etagenbetten und zwei schmale Metallspinde – läuft eine Frau auf und ab. Sie wirkt aufgelöst. Immer wieder nimmt sie die Brille ab, wischt sich über die Augen. Sie möchte etwas sagen, Bilder auf ihrem Handy zeigen. Ludmila Korobka ist 64 Jahre alt und lebt in Nikopol, 70 Kilometer südwestlich von Oberhausens Partnerstadt Saporishja und somit ganz in der Nähe des gleichnamigen größten Atomkraftwerks in Europa. Es ist von russischen Truppen besetzt. „Seit zwei Monaten wird unsere Stadt bombardiert“, sagt sie aufgeregt, „jeden Tag“. Sie habe große Angst davor, dass das Kraftwerk getroffen wird. „Ich verstehe nicht, warum die ganze Welt nicht reagiert.“
Sozialarbeiterin Anna Almouhana versucht, Ludmila Korobka zu beruhigen. Gerade erst hat sie Anna Serjhienko in den Arm genommen, die ältere Dame, mit der wir als erstes gesprochen haben. „Ich verstehe das alles so gut“, sagt die 41-Jährige, die selbst vor fünf Jahren mit ihren drei Kindern aus Syrien geflüchtet ist. Weil ihre Mutter Russin ist, kann sie sich mit den Ukrainerinnen und Ukrainern verständigen. Immer wieder stockt sie beim Übersetzen, wenn eigene Erinnerungen aufsteigen. Es muss dieses Mitgefühl sein, das Anna Almouhana und die anderen Helfer den Menschen hier entgegenbringen, das dazu führt, dass so viele das Etagenbett hinterm Paravent einem Hotelzimmer vorziehen. Geteiltes Leid ist halbes Leid.
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