Oberhausen. Für den Überblick zu 100 Jahren Siedlungsverband Ruhr im Peter-Behrens-Bau wurde endlich der Fotoschatz aus 35.000 Archiv-Aufnahmen erschlossen.
„Ist das jetzt romantisierend?“, fragt der Fotokollege. Antwort: „Es romantisiert sich von selbst.“ Vor dem inzwischen ein halbes Jahrhundert alten „Blagen“-Charme ist selbst die LVR-Chefin nicht gefeit. Die drei lässig an eine räudige Backsteinmauer gelehnten Duisburger im Grundschulalter in Latzhose, Kittelkleidchen und Steppanorak erklärt Ulrike Lubek zu ihrem Lieblingsbild: Pure Nostalgie in einer Ausstellung mit dem fordernden Titel „Die Zukunft im Blick“.
Im stolzen Peter-Behrens-Bau an der Essener Straße sind nach längerem Corona-bedingtem Stillstand jetzt wieder Führungen durch das gewaltige Depot des LVR-Industriemuseums möglich. Obendrein gibt’s im Parterre eine Fotoausstellung zu hundert Jahren Ruhrgebiet, die in ihrer Vielfalt der Motive kaum größer sein könnte. Es ist die Essenz eines Schatzes aus 35.000 Einzelbildern, von der Direktorin des Landschaftsverbandes fast despektierlich „ein ziemlich ungeordnetes Konvolut“ genannt. Vor 20 Jahren hatte sich so der einstige Siedlungsverband Ruhrgebiet, heute etwas bekannter als RVR, seines Fotoarchivs entledigt.
Dokumentarische Gebrauchs-Fotografie
In der Zinkfabrik Altenberg, der Zentrale des LVR-Industriemuseums, blieb die Fülle an Fotoabzügen und vor allem Negativen – inklusive vieler Glasplatten – lange Jahre ungebändigt. In Kuratoren-Sprache ein „Depositum“. Wer in diesem Wust ohne Inventar-Nummern fündig werden wollte, musste schon großes Glück haben. Das änderte sich erst, als LVR und RVR das Jubiläum jenes Siedlungsverbandes auf sich zukommen sahen, der das Wort „Ruhrgebiet“ erst zum gängigen Begriff gemacht hatte.
Holger Klein-Wiele wurde zum Schatzgräber – und hatte als Kurator die Qual der Wahl zwischen abgegriffenen Dias und unberührten Negativstreifen, von denen noch nie Abzüge genommen wurden. Der Kunsthistoriker spricht nüchtern von „dokumentarischer Gebrauchs-Fotografie“ – und hat recht. Ein so pointensicherer Menschenbildner wie Rudolf Holtappel, dessen große Retrospektive in der Ludwiggalerie gerade beendet ist, findet sich nicht in dieser Auswahl des RVR-Bestands.
Im Minirock auf der Motorhaube
Trotz heute so amüsanter Szenen wie jener des um einen Ford Capri drapierten Pärchens: Er, mit halblanger Matte und Schlaghose, wäscht sein „heiliges Blechle“, während sie im Minirock auf der Motorhaube Platz nimmt. Doch die auf einer ausrangierten Polsterbank auf Ruhrorter Bürgersteig herumhopsenden Kinder sind noch 1980 weniger zentrales Motiv (das wären sie natürlich für Holtappel gewesen) als vielmehr Staffage: Dem „Siedlungsverband“ RVR ging es schließlich über Jahrzehnte vor allem um die Wohnsituation im Ruhrgebiet.
Was der Betrachter heute romantisiert – und mancher Kunsthistoriker womöglich mit Caspar David Friedrichs Bildkompositionen vergleichen könnte – sollte schlicht eine „schlechte Wohnlage“ dokumentieren: So entstanden in den 1950er jene heute fast verführerisch wirkenden Blicke aus Siedlungsfenstern, in deren Rahmen die typischen Silhouetten aus Schloten und Fördertürmen aufragen. Oder, beängstigend nah, eine staubige Halde.
Rein gar nichts zu romantisieren gibt es an den erbärmlichen Schalker Wohnbaracken von 1929: Der Text dazu aus der Reportage „Schwarzes Revier“ ist deutlich: „Zahlreich sind heute noch hölzerne Baracken, Treppen, die außen liegen, um Wohnfläche zu sparen, steinerne Höhlen, zur Hälfte unter das Niveau der Straße versenkt, unwürdig, Menschen als Wohnung zu dienen.“
Freizeitgesellschaft auf den Liegewiesen
Man erkennt nach solchen Aufnahmen den Fortschritt in so schlichten – und schlicht fotografierten – Siedlungen wie dem Alstadener „Grünen Winkel“ der frühen 1950er. Der Ausweg aus der Wohnungsnot ist durchaus eine Erfolgsgeschichte des Siedlungsverbandes. Beim Thema Nahverkehr formulierte dann selbst RVR-Direktorin Karola Geiß-Netthöfel vor Luftaufnahmen leerer Autobahnkreuze ganz vorsichtig: „Da können wir nur besser werden.“
Mit Ermäßigung für die Schau auf Zollverein
Die schön eingerichtete Ausstellung mit Ruhrgebietsfotografien aus dem Archiv des Regionalverbandes RVR ist von Sonntag, 20. September, bis zum 30. Mai 2021 im Peter-Behrens-Bau, Essener Straße 80, zu sehen, geöffnet dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr. Der Eintritt kostet 5 Euro, ermäßigt 4 Euro, frei für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre.
Üppig bestückt ist der großformatige Katalog zur Ausstellung, erschienen beim Münsteraner Aschendorff-Verlag, zum Preis von 19,90 Euro. Bei Vorlage der Eintrittskarte „100 Jahre Ruhrgebiet“ des Ruhr-Museums im Weltkulturerbe Zeche Zollverein erhalten die Besucher im Peter-Behrens-Bau eine Ermäßigung – und umgekehrt. Online informiert diezukunftimblick.lvr.de, telefonisch Kulturinfo Rheinland 02234 - 9921 555.
Und doch gelingt in dieser Ausstellung zum Wirken einer Planungsbehörde sogar die Verbindung von Dauerstau und Nostalgie: Man zähle in der Aufnahme einer verstopften Essener A40-Auffahrt nur die VW-Käfer (plus ein Bulli). Das Bild stammt von 1980. Der Ausstellungsparcours endet mit ebenso retro-seligen Blicken auf eine Freizeitgesellschaft, die sich auf den Liegewiesen und unter den Sprungtürmen der Revierparks tummelt. Gegen deren weitere Verwitterung nimmt der RVR nun 28 Millionen Euro in die Hand: „Die Zukunft im Blick“.