Oberhausen. Die allererste Premiere 1920 im Theater Oberhausen nahm Maß an der Antike. „Politisches Drama“ sorgte beim Neubeginn 1949 für Kritiker-Verdruss.

100 Jahre Theater Oberhausen – das bedeutet im 20. Jahrhundert gleich zweimal Aufbruch im Chaos unmittelbarer Nachkriegszeit. Das bedeutet auch immer wieder Wechsel zwischen Schauspiel und Musiktheater – und sogar den tollkühnen Mut zum Dreispartenhaus. Immer wieder Neuanfänge sind natürlich auch festliche Reden, die sich auf das „Wahre, Schöne, Gute“ berufen.

Ausgerechnet der 100. Geburtstag jedoch geht fast sang- und klanglos vorbei: Eine Pandemie, nämlich die dritte Welle der Spanischen Grippe, hatte am 15. September 1920 den Theater-Aufbruch nicht verhindert. Das Corona-Virus dagegen verhindert das große Fest zum 100., wenn auch nicht den Start der Spielzeit 2020/’21.

Am Anfang der Dichtkunst: Die griechische Poetin Sappho, hier in einem Mosaik aus Pompeji, war auch die Heldin von Franz Grillparzers heute gründlich vergessener Tragödie.
Am Anfang der Dichtkunst: Die griechische Poetin Sappho, hier in einem Mosaik aus Pompeji, war auch die Heldin von Franz Grillparzers heute gründlich vergessener Tragödie. © Getty Images | Werner Forman

Der Drang zur „Hochkultur“, der den Saal der Gaststätte „Wilhelmshöhe“ vor 100 Jahren in ein „echtes“ Theater verwandeln sollte, dürfte auch die Wahl des Stoffes bestimmt haben: „Sappho“, eine Liebestragödie um die erste Poetin der griechischen Antike, 1818 erdichtet vom Wiener Romantiker Franz Grillparzer. Ausgerechnet dieser – am Beginn der kulturell so rasant progressiven 1920er – schon reichlich entlegene Stoff war den Oberhausenern bereits ein Jahr zuvor geboten worden: Schließlich gab es ja „Theater vor dem Theater“ in Gestalt von Gastspielen reisender Tournee-Ensembles.

Die Kritiker von Generalanzeiger und Oberhausener Zeitung jedenfalls bemühten sich, dem stolzen Anlass angemessen, um einen erhabenen Ton: „Die Aufführung selbst war ein großes Versprechen und ein Bekenntnis zur hohen, reinen Kunst.“ – „Die Aufführung ließ ernstes Streben nach künstlerischer Vollendung erkennen.“ Höher lassen sich die Ansprüche nicht schrauben.

Lieber Kritikerschwulst als Kriegsgedröhn

Und doch versenkte sich der feuilletonistische Blick auch ins Detail, lobte der eine das Bühnenbild einer idyllischen Insel Lesbos: „Es gewährt einen lieblichen Ausblick auf das freie Meer.“ Der andere hätte sich von einer Sappho namens Käthe Großmann eine schönere Stimme erhofft: „So hinderte ein Mangel an Metall und Modulation im Organ der Vertreterin der Sappho die volle Entfaltung des musikalischen Elementes.“

Vom Gasthaus zur Dreispartenbühne: Der Haupteingang des Theaters Oberhausen nach den Umbauten 1939 durch den Gestalter des Rathauses, Stadtbaumeister Ludwig Freitag.
Vom Gasthaus zur Dreispartenbühne: Der Haupteingang des Theaters Oberhausen nach den Umbauten 1939 durch den Gestalter des Rathauses, Stadtbaumeister Ludwig Freitag. © FFS | Foto: Sammlung Lepges / Repro: Jörg Schimmel

Doch lieber etwas Kritikerschwulst als blankes Kriegsgedröhn: Nach aufwendigen Umbauten durch Stadtbaumeister Ludwig Freitag, den Gestalter des Rathauses, eröffnete ein „neues“ Theater an vertrauter Stelle am zweiten Weihnachtstag 1939. Die Wehrmacht hatte Polen überfallen; der Generalanzeiger zeigte auf der Seite mit dem Bericht zur „Weihe des Hauses“ das Foto einer DRK-Schwester in Loden-Diensttracht. Oberhausens Theater öffnete als Opernhaus – erneut mit einem Rückgriff aufs Repertoire der Romantik: Allerdings ist Carl Maria von Webers „Freischütz“ nicht annähernd so vergessen wie Grillparzers „Sappho“.

Die NS-gleichgeschaltete Presse tönte über das Schauerstück von 1821 (das treffsicher von der Verführung durch eine dämonische Macht erzählt) als „eines der herrlichen, volkstümlichen und unvergänglichen Zeugnisse nationaldeutschen Kunstschaffens“. Mehr will man von einem solchen Feuilletonisten nicht lesen. Werner Trenkner, immerhin, der Dirigent dieses Beginns im Weltkrieg, blieb als Musikdirektor und Komponist einer gemäßigten Moderne auch in Oberhausen, als es galt, ein Nottheater inmitten des Nachkriegs-Schutts zu bespielen.

Viel zu nah an der eigenen Gegenwart

Verdrängen oder sich der Verantwortung stellen – dieser Zwiespalt spiegelt sich im Programm (und in dessen kritischer Wertung) des dritten Neubeginns 1949: Intendant Paul Smolny inszenierte damals sowohl die erste Premiere fürs Schauspiel als auch den Opernstart. Friedrich Schillers Historien-Drama „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“ war dem NRZ-Kritiker viel zu nah an der eigenen Gegenwart: In geradezu giftigem Ton widersprach er dem Anliegen des Intendanten „politisches Drama könne ein Beitrag sein, Gesinnungen zu läutern und Fronten zu klären: Doch brachte er nichts anderes auf die Bühne als eine historische Reminiszenz, ein markartsches Gemälde“ – ein fieser Verweis auf den kitschig-pompösen österreichischen Maler und Dekorationskünstler Hans Markart.

Oberhausens „Ur-Theater“: Blick ins Innere des Restaurants Wilhelmshöhe. Das liebevoll gemalte Bühnenbild sieht schon richtig nach Theater aus.
Oberhausens „Ur-Theater“: Blick ins Innere des Restaurants Wilhelmshöhe. Das liebevoll gemalte Bühnenbild sieht schon richtig nach Theater aus. © FFS | Foto: Sammlung Bruno Zbick/ Repro: Daniel Elke

In der Haltung freundlicher, doch im Ton ähnlich mäkelig, zeigte sich der WAZ-Rezensent gegenüber Paul Smolny als Opern-Regisseur, der sich mit Georges Bizets „Carmen“ für unverfängliches Fernweh entschieden hatte: „Das stimmliche Zusammenwirken der Solisten und des Chores berechtigt zu der Hoffnung auf eine solide Ensemble-Bildung.“ Überschwang klingt anders, aber man war ja am Anfang – im gerade wieder erbauten Theater.

Überspringt man weitere 68 Jahre, in denen das Theater Oberhausen weder Insolvenzen (wie in den frühesten Jahren) noch Bombenschäden erschütterten, und blickt auf den jüngsten „Neuanfang“ aus der Kontinuität einer solide eingeführten Theater-„Marke“ – so ist man mit Florian Fiedlers Einstand 2017 fast wieder beim Nachkriegsjahr 1949 und der Frage: Wie lässt sich der NS-Ungeist auf der Bühne demaskieren? Nicht so wie bei den „Schimmelmanns“, da zeigten sich viele Verrisse im Einklang mit dem WAZ-Votum von „einem pseudo-politischen Theater, das nichts zu sagen hat“.

Ausprobieren ist auch ein Anfang

Pikant war, wie sich Mario Salazar, der Autor dieser Uraufführung, in die Online-Debatte auf nachtkritik.de einschaltete: „Der Text wurde von mir nie als ‘Nazi-Horror-Boulevard-Dramödie’ bezeichnet. Der Text ist keine Komödie, sondern ein hoffnungsloser Schrei, der die platten Argumente der Rechten auf die Bühne bringen sollte.“ Dem Theater Oberhausen und Florian Fiedler dankte Salazar dafür, „sich an diesem Text ausprobiert zu haben“. Ausprobieren ist auch ein Anfang.