Mülheim. . Marianne Lierhaus, 86 Jahre alt, berichtet, wie sie als Kind die Bombenangriffe auf Mülheim erlebte. Mit ihrem kleinen Bruder lief sie damals durch die brennende Stadt. „Es wurde normal, durch Schutt zu gehen, der Alarm gehörte zum Alltag“, sagt die Zeitzeugin heute.

Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, am 1. September 1939, stand ihre Mutter weinend an ihrem Bett. Marianne Lierhaus, damals elf Jahre alt, verstand überhaupt nicht, warum die Bestürzung so groß war, was es bedeutet, wenn Krieg herrscht. „Wir haben zu Anfang noch Granatsplitter auf den Straßen gesammelt und sie stolz in der Schule herum gezeigt“, erinnert sich die 86-Jährige, aber: „Irgendwann wurden es zu viele, es wurde normal, durch Schutt zu gehen, der Alarm gehörte zum Alltag.“

Das Urvertrauen geht verloren

Wie erlebt ein Kind eine Bombennacht? Einen Vortrag mit diesem Titel hatte Marianne Lierhaus bereits im Jahr 2003 in einem Gedenkgottesdienst in der Petrikirche über die Bombennacht vom 22./23. Juni 1943 gehalten. Ihre Antwort darauf: „Zunächst nicht anders als Erwachsene, aber da ist etwas entscheidend anderes. Ein Kind erfährt hier: Auf meine Eltern ist kein Verlass mehr, sie können mich nicht mehr beschützen. Sie haben Angst wie ich, sie schreien, sie fluchen, sie weinen, sie beten. In der Nacht haben viele Kinder ein für allemal das verloren, was wir Urvertrauen nennen.“

Zur Person: Marianne Lierhaus

Marianne Lierhaus wurde im Februar 1928 in Mülheim geboren. Ihr Vater, der den Ersten Weltkrieg erlebt hatte und viel davon berichtete, hat als kaufmännischer Angestellter bei der AEG gearbeitet.

Über ihren Vater erzählt die Pensionärin: „Er war nicht Mitglied in der NSDAP, er gehörte zur Bekennenden Kirche, die in der Altstadtgemeinde Mülheim durch Pastor Barnstein, einem entschiedenen Gegner des NS-Regimes, vertreten war.“

Geprägt durch diese in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgte Gemeinde wurde Marianne Lierhaus Lehrerin. Sie unterrichtete evangelischen Religionsunterricht und Deutsch am Berufskolleg in der Innenstadt.

Ihr Elternhaus, das an der Ecke Nordstraße/Kappenstraße stand, hat diese eine für Mülheim so prägende Bombennacht leicht beschädigt überstanden. Gleichwohl hat Marianne Lierhaus diese Nacht und deren Folgen noch in wacher Erinnerung: „Was machen Kinder nach solch’ einer Nacht, wenn der Angriff vorbei ist? Wenn sie entdecken: Wir leben noch? Sie können nicht helfen beim Feuerlöschen, sie können keinen Schutt wegräumen – dafür sind sie zu klein. Sie sind überall lästig und überflüssig. Also nahm ich meinen zwölfjährigen Bruder an die Hand, und wir beide gingen von der Nordstraße in die Stadt, weil wir wissen wollten, ob unsere Freunde noch leben. Wir gingen, obwohl wir wussten, dass die Bomber jederzeit wiederkommen können – das taten sie oft, denn sie flogen ja in Wellen. Wir gingen auf das Feuermeer und den Qualm zu. Manche Straßen waren verschüttet, bei anderen brannte das Pflaster. Wir sahen die Petrikirche brennen. Kein Erwachsener hielt uns auf, kein Mensch fragte: Wo wollt ihr denn hin?“

Das Haus war nur noch ein Trümmerhaufen

So gelangten die beiden Lierhaus-Kinder bis in die Innenstadt. Auf dem Rückweg nach Hause, so erzählt die 86-Jährige, habe sie am Eichenberg nach einer Klassenkameradin sehen wollen. „Das Haus war nur noch ein Trümmerhaufen. Am nächsten Morgen erfuhr ich: Eine Sprengbombe hatte das Haus getroffen, allerdings hatte die Kellerdecke gehalten. Der Vater war zur Zeit des Angriffs nicht im Haus gewesen, vermutlich war er zu einem Luftschutzeinsatz eingeteilt. Durch eine Kellerluke konnte er mit seiner Frau und seinen drei Kindern sprechen. ‘Haltet aus, wir holen euch da raus’, hat er ihnen gesagt. Um sechs Uhr in der Frühe stürzte die Kellerdecke ein und begrub Mutter und Kinder. Meine gesamte Klasse nahm an der Beerdigung teil, das ist mir unvergesslich bis heute – auf dem Friedhof stand der Vater alleine vor vier Särgen.“

Auch das Elternhaus von Marianne Lierhaus an der Ecke Nordstraße/Kappenstraße fiel den Bomben zum Opfer. „Im November 1944 sind wir ausgebrannt“, erzählt die Pensionärin. Sie selbst befand sich zu dieser Zeit als Evakuierte im Weserbergland, weil seit dem Großangriff von 1943 die Schulen in Mülheim geschlossen waren. Am Vorabend aber des Angriffs auf ihr Elternhaus hatte das junge Mädchen das drängende Gefühl „ich muss nach Hause“ und setzte sich in den Zug. Zurück in Mülheim erlebte sie alles mit. „Das Haus brannte lichterloh, auf dem Weg zum Bunker mussten wir uns alle hinwerfen, auch meine Großmutter – sie war etwa in dem Alter, in dem ich jetzt bin.“ Die Familie überlebte, die Erlebnisse begleiten Marianne Lierhaus ihr Leben lang.