Mülheim.

Der Chef der Polizeibehörde zog 1948 die erschütternde Bilanz der Bombenangriffe auf Mülheim: Bei 160 Angriffen im Zweiten Weltkrieg fielen mehr als 8000 Spreng- und 21.000 Phosphorbrandbomben auf die Stadt, dazu fast 270.000 Magnesium-Stabbrandbomben, 397 Luftminen und 810 andere Bomben. Das Statistikamt der Stadt zählte schließlich 1094 Todesopfer. Am Kriegsende waren 2968 Wohnhäuser zerstört, dazu 4528 beschädigt.

Der heute 77-jährige Walter Neuhoff hat den Bombenkrieg als kleiner Junge in der Altstadt miterlebt. „Es war eine getrübte Kindheit ohne Sonne“, erinnert er sich an das Leben in Angst und Trümmern.

Die Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1943 hatte das größte Unheil über die Stadt gebracht. Mülheims Innenstadt brannte, 530 Menschen verloren ihr Leben. Walter Neuhoff, damals sieben Jahre alt, erinnert sich, wie er mit seinen Eltern und den Mietern im familieneigenen Haus Tersteegenstraße 5 zusammengekauert im Keller saß. Die Zeit hatte nicht mehr gereicht, den „Stollen Tippelberg“ an der Freilichtbühne zu erreichen. Zu schnell hintereinander dröhnten Voralarm, Vollalarm und Akute.

Das Leben änderte sich schlagartig

Neuhoffs hatten in jener Nacht noch Glück. Nur einige Fenster zerbarsten. Doch das Leben änderte sich schlagartig. Nahezu die komplette Innenstadt lag in Schutt und Asche. Am frühen Morgen suchte sich der kleine Walter mit seinem Vater den Weg kreuz und quer durch die zerstörte Stadt, im Bogen um die Straßen, die wegen Einsturzgefahr umstehender Ruinen gesperrt waren. Ziel war das Haus der Oma in Eppinghofen, das sie zerstört auffanden. „Es war sehr beklemmend“, so Neuhoff. „Das ganze Leben in der Innenstadt war erloschen. Da war kein Mensch auf den Straßen.“

Als Erstklässler 1943 wurde Walter Neuhoff von Schule zu Schule geschickt. Mal war eine Schule beschädigt oder zerstört, mal wurde eine andere zweckentfremdet von Soldaten besetzt. „Ein Zeugnis für mein erstes Schuljahr habe ich nie gesehen“, sagt der Zeitzeuge. In rappelvollen Klassen mit teilweise bis zu 80, 90 Schülern sei es schwergefallen zu lernen.

Spielen auf der Straße verboten

Kindheit im Krieg – kein Zuckerschlecken. „Süßigkeiten gab es nicht“, sagt Walter Neuhoff. „Es war ein Leben auf Bezugsschein.“ Vor dem Laden der Nessbachs an der Dimbeck Stunde um Stunde anstellen für Brot, Butter, Zucker, bei Ressmann an der Kettwiger für Obst und Gemüse, Der Metzgerei Pieper an der alten Bachstraße war die Familie zugeteilt für die spärlichen Fleisch- und Wurstrationen. Wegen der Tiefflieger war das Spielen auf der Straße verboten. „Ich habe mit den Nachbarskindern im Hof gespielt – wenn die Sirene losheulte, ging’s entweder in den Keller oder zum Stollen.“

Heiligabend in der Waschküche

Auch am Mittag des Heiligen Abends 1944 reichte die Zeit nicht für die Flucht in den Stollen. Wieder musste der Keller Schutz geben. Nur drei Minuten seien verstrichen vom Voralarm bis zur Akute, sagt Neuhoff, „Vater war gerade erst von der Arbeit zurück.“ Schleunigst in die Waschküche. Die Bomben, die insbesondere dem Flughafen galten, gingen auch in unmittelbarer Nachbarschaft ein. Der Vater schlug den Durchbruch zum Nachbarhaus, damit sich die Menschen dort aus dem Feuerinferno retten konnten. Alle Fenster zerbarsten, die Haustür brach unter dem Luftdruck heraus, den geschmückten Weihnachtbaum schleuderte es aus dem Fenster ins eisige Schneetreiben.

Den Heiligen Abend verbrachten alle 22 Hausbewohner bei Kerzenlicht und Keksen in der Waschküche. „Ich habe das Vaterunser nie so oft gebetet wie in dieser Nacht“, erzählt Neuhoff. „Unser Papst Pius und Adolf Hitler werden es noch richten“, habe eine Nachbarin an jenem Heiligabend gesagt. „Da haben sich nicht nur meine Eltern ganz sparsam angeguckt. . .“

Weitere Zeitzeugen gesucht

Im vergangenen Jahr hatte die WAZ-Lokalredaktion Mülheim zum 70. Jahrestag des schwersten Luftangriffs auf die Stadt in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1943 ihre Leser dazu aufgerufen, ihre Erinnerungen an jene Nacht zu schildern. Die große Resonanz zeigte, dass viele ältere Mülheimer noch sehr bewegt sind, denken sie zurück an diese schwere Zeit.

Nun, im Februar 2014, startet die WAZ noch einmal überregional einen Aufruf an alle Zeitzeugen. Am Ende sollen eingereichte Erlebnisberichte nicht nur in Ihrer Zeitung, sondern auch in einem Buch gesammelt veröffentlicht werden. Die WAZ-Redaktion Mülheim beteiligt sich und freut sich insbesondere über Beiträge, die vom Alltag im Bombenkrieg 1944 berichten. Zeitzeugen können uns schreiben (die Adresse: WAZ-Redaktion, Eppinghofer Straße 1-3, 45468 Mülheim, redaktion.muelheim@waz.de) oder, falls Ihnen das Schreiben schwerfällt, gerne auch zu einem persönlichen Gespräch einladen: 44 308 31.