Mülheim-Holthausen. Gabriele Becker ist Leiterin des Kindergartens Arche in Mülheim. Sie hat einen Traumberuf, sagt die 52-Jährige. Doch in Zeiten von U 3 fällt ihre Bilanz ernüchternd aus. Wenn sich nicht rasch etwas ändere, gibt es Probleme. Schon jetzt seien Erzieherinnen überlastet, bleibe Bildung auf der Strecke.

U 3: Dieses Kürzel hat die Kindergartenlandschaft verändert. Es steht für „unter Dreijährige“ und meint, dass seit 2013 auch Eltern von Ein- bis Dreijährigen einen Rechtsanspruch haben auf Betreuung ihres Nachwuchses. In großer Kraftanstrengung wurden allerorten neue Plätze geschaffen – und so kamen in Mülheim auch tatsächlich alle unter, die unter kommen wollten. Das hörte sich gut an – doch besteht U 3 den Alltagstest?

Wir fragten nach bei einer, die es wissen muss: Gabriele Becker ist Erzieherin und seit zwölf Jahren Leiterin des Evangelischen Kindergartens Arche. Sie habe einen Traumberuf, sagt die 52-Jährige. Doch in Zeiten von U 3 fällt ihre Bilanz ernüchternd aus:

„Wir sind eine eher kleine Einrichtung, hatten jahrelang 40 Kinder, aufgeteilt auf zwei Gruppen. Damit sind wir gut gefahren: Wir konnten tolle Projekte umsetzen, haben mit Mülheimer Künstlern zusammengearbeitet, hatten Laptops und Mikroskope in allen Gruppen. Vieles davon ist jetzt vorbei – das macht das Team traurig und frustriert uns. Es ist einfach nicht mehr die Arbeit, die wir für sinnvoll erachten – das habe ich übrigens auch aus anderen Einrichtungen gehört.

Hauptsache: satt, sicher, sauber

Wir schaffen zwar alles noch irgendwie, aber nicht mehr mit der gleichen Qualität. Denn mittlerweile sind 44 Kinder bei uns, also zehn Prozent mehr als früher, und zwölf davon sind jünger als drei. Da besteht ein Großteil der Arbeit nur noch aus den drei berühmten S: satt, sicher, sauber.

Im nächsten Sommer haben wir schon bei 48 Kindern – das kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Und es könnten noch mehr werden. Allerdings keine Dreijährigen; denn die kann ich auf lange Zeit gar nicht mehr aufnehmen.

Vor drei Jahren hatten wir uns entschieden, die Arche so umzubauen, dass wir Kinder ab zwei aufnehmen können. Zwölf Plätze sind damals finanziert worden; für die Kleinen braucht man ja extra Schlaf- und Wickelplätze. Geplant war, diese zwölf Plätze nach und nach zu belegen – aber auf alle Fälle bei 40 Kindern zu bleiben.

Krankenstand ist höher und Kollegen sind unzufriedener als früher

Zum August 2013 wollten wir acht Zwei- und acht Dreijährige aufnehmen, weil genau 16 Kinder in die Schule gekommen waren und wir eine ausgewogene Mischung haben wollten. Das Kinderbildungsgesetz (KiBiz) besagt ja auch, dass man pro Gruppe eine Spanne von vier bis sechs U 3-Kindern hat.

Wir hatten also schon alle Plätze verteilt – nach der üblichen guten Zusammenarbeit mit der Stadt – und den Eltern Bescheid gegeben, da kam Ende Februar plötzlich der Erlass vom Ministerium für Familie, Jugend, Kultur und Sport. Er schrieb vor, sofort alle zwölf U 3-Plätze zu belegen. Wir hätten den älteren Kindern natürlich absagen können – aber das wollten wir nicht. Die Eltern haben sich ja darauf verlassen. So standen wir plötzlich mit 20 anstelle von 16 neuen Kindern da. Und haben bald bemerkt: Wir kommen an unsere Grenzen. Der Krankenstand ist höher und die Kollegen sind unzufriedener als früher. Sie müssen jetzt oft ihre Freizeit opfern, um zum Beispiel Bildungs-Dokumentationen zu erstellen.

„U 3 klappt nur mit deutlich mehr Personal“

Damit kein falscher Eindruck aufkommt: Wir arbeiten gerne mit den Zweijährigen – doch die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Wir bräuchten mehr Personal und zum Teil auch anderes Personal. Für Pflegeaufgaben wie das Wickeln wären Kinderpflegerinnen bestens geeignet. Die gab es früher oft – mittlerweile aber sind sie fast alle weg, weil man ja nur noch auf Bildung setzen wollte. . . Alle Pflegerinnen mussten sich also zu Erzieherinnen weiterbilden und fehlen jetzt. Ein anderes Problem ist die Essenbetreuung. Die Kleinen brauchen eigentlich Einzelbetreuung, das ist aber schwer machbar bei zwei Vollzeit- und sechs Teilzeitkräften. Und auch die Größeren brauchen ja mal Hilfe.

Ich setze jetzt auf die Eltern. Sie müssen das Problem erkennen und sensibel werden für die Situation. Sie müssen sich wehren und von der Politik Bildung fordern. Sie müssen verlangen, dass sich die Rahmenbedingungen ändern. U 3 klappt nur mit deutlich mehr Personal.

Exzellenz? Nur mit mehr Personal 

EEC: Das ist noch so ein Kürzel, das aktuell die Kindergartenwelt umkrempelt. Die drei Buchstaben stehen für einen bestimmten pädagogischen Ansatz: für Early Excellence. Immer mehr Kitas arbeiten nach dem Konzept, das unter anderem vorsieht, dass die Kinder sich nicht mehr in festen Gruppen aufhalten, sondern täglich neu entscheiden, in welchem Bereich sie spielen wollen. Ob heute also eher Bauen oder Malen oder Lesen oder Turnen oder. . . auf ihrem Plan steht.

Auch die Kinder von Ute Zimmermann (41) und Yvonne Kaufhold (35) sind seit Mai EEC-Kinder. Sie besuchen die Kita „Kindertraum“ am William-Shakespeare-Ring. Und ih­re Mütter sind mittlerweile ganz zufrieden mit dem Konzept, welches auch darauf setzt, dass die Kinder selbst herausfinden, wo ihre Stärken und Talente sind. Die Rückmeldungen aus der Elternschaft seien jedenfalls überwiegend positiv – „und man erkennt schon jetzt, dass auch stille Kinder plötzlich aufblühen“, berichtet Zimmermann.

Von Vielfalt war anfangs keine Spur

Die ersten Wochen aber seien katastrophal gewesen; denn damals sei das Hauptproblem noch nicht gelöst gewesen: das massive Personalproblem. Bedingt durch Krankheit, Urlaub etc. seien anfangs nur drei, vier Betreuer im Einsatz gewesen; vorgesehen seien fünf Erzieherinnen plus zweieinhalb Kinderpflegerinnen. Dementsprechend seien zunächst nur wenige der eigentlich neun Spielbereiche geöffnet worden. Von Vielfalt also keine Spur. „Und es sind auch schon mal Kinder unbeaufsichtigt durch die Turnhalle getobt und dabei hat’s kleinere Kollateralschäden gegeben“, sagt Zimmermann, die sich übrigens auch im Stadtelternrat für die Belange Mülheimer Kinder einsetzt.

Cleverer wäre es gewesen, EEC mit voller Mannschaft einzuführen, sagen beide Frauen – oder aber einen „Springerpool“ für Erzieherinnen einzurichten, aus dem sich unterbesetzte Einrichtungen bedienen können. Überhaupt: Die Stadt könne mehr leisten fürs Kita-Personal, finden sie. Denn die Erzieherinnen seien teilweise auf dem Zahnfleisch gekrochen; „die waren zwar total bemüht, aber hatten einen echt harten Job“, so Kaufhold. Es müsse immer für ausreichend Personal gesorgt sein, fordert auch Zimmermann. „Denn unsere Kinder sollen doch von der Erziehung in den Kitas profitieren – das können sie aber nicht, wenn die Erzieherinnen am Rande des Wahnsinns drehen.“

Eltern möchten mitwirken an der Umsetzung des Konzepts 

Die mangelnde Kommunikation mit der Stadt, die ist für Kathrin Bremer, Elternratssprecherin der Kita „Sterntaler“ an der Solinger Straße, das größte Problem an Early Excellence. „Wir haben erst eine Woche vor der Einführung überhaupt von der Umstellung erfahren.“ Und auf erboste Nachfrage habe eine Fachberaterin nur geantwortet: Dass sich die Stadt im Umstellungsprozess befinde, das habe man der Zeitung entnehmen können. . .

„Wir erfahren immer nur auf Nachfrage von neuen Dingen“

„Wir erfahren immer nur auf Nachfrage von neuen Dingen, wissen nie, was als nächstes kommt“, ärgert sich die 37-Jährige. So sei das auch gewesen beim Auflösen der Gruppen oder beim Wegfall des gemeinsamen Gruppen-Frühstücks. Dabei wollen die Mütter und Väter der Sterntaler-Kinder doch mitwirken an den Veränderungen – „schließlich haben wir genaue Vorstellungen, was die Erziehung unserer Kinder anbelangt“. Man wünsche sich sehr, dass diese Vorstellungen respektiert und bei der Umsetzung einbezogen werden. „Doch das ist nicht erwünscht“, klagt die zweifache Mutter. Ihr Beispiel: Nachdem das Frühstück in den Gruppen abgeschafft worden war, und die 104 Kinder – davon 30 unter Dreijährige – nun zu selbst gewählter Zeit in einem Bistro essen sollten, habe man viele Unterschriften dagegen gesammelt. Die Liste habe aber keinen bei der Stadt interessiert, „wir konnten kein Kommunikationsbereitschaft erkennen“.

Und noch etwas bedrückt Kathrin Bremer: Die Belastung fürs Personal sei wesentlich höher als in Vor-EEC-Zeiten. „Ich habe noch nie so häufig Erzieherinnen gesehen, die in Tränen aufgelöst sind.“