Mülheim an der Ruhr.

Karl Frey: Es war nicht viel mehr als ein Name, den wir hatten, als wir uns auf die Suche nach dem im Krieg gefallenen Großvater meines Mannes machten. Dessen drei Kinder, die gerade fünf, vier und zwei Jahre alt waren, als der Vater an der Front getötet wurde, hatten ihr Leben lang mit dem Gedanken gespielt, das Grab einmal zu besuchen – aber irgendwie hatte es an der Initialzündung gefehlt. Und die Frau von Karl Frey, die liebevolle Mutter der drei Kinder, hatte sie auch nicht wirklich unterstützt im Bestreben, mehr zu erfahren. Gesprochen wurde daheim im Schwabenländle höchst selten über den Gefallenen – möglicherweise war das die Art von Mutter Mina, mit der Trauer fertig zu werden.

Die Kinder arrangierten sich, sie kannten es nicht anders. Und doch waren da viele Fragen – und es gab eine Ursehnsucht, mehr über den fremden und zugleich irgendwie vertrauten Mann zu erfahren. Nach dem Tod der Mutter im Jahr 1991 fiel den Kindern Hede Müller, Heidrun Grimm und Volkhard Frey ein handgeschriebener Brief des Kompanieführers in die Hände, in dem zu lesen war, wo der Obergefreite Karl Frey ums Leben gekommen war und unter welchen Umständen.

Von russischen Fliegern überrascht

In Sturi bei Saldus, ehemals Frauenburg, in Lettland sei er – zwölf Tage vor seinem 39. Geburtstag im November 1944 – beim Wasserholen an einem Brunnen von russischen Fliegern überrascht worden. „Als die Flieger fort waren, blieb Ihr Mann liegen“, schrieb der Kompanieführer der Witwe. „Wir liefen sofort hin und sahen, dass er am Hals blutete. ... Er war bei voller Besinnung und sagte: ,Bei dieser vielen Arbeit muss mir das gerade noch passieren!’“ Zunächst habe es gut ausgesehen für Karl Frey, berichtete der Kompanieführer – „tief erschüttert traf mich daher die Nachricht, dass Ihr lieber Mann im Lazarett verstorben ist“.

Lettland also. Fliegt man da einfach so hin? Nun, es dauerte noch mehr als 20 Jahre, bis Anfang 2013 der Entschluss der Geschwister stand, das Grab des Vaters tatsächlich zu besuchen. Diese einmalige Reise, betonten Hede und Heidrun, sei der einzige Grund, warum sie sich jemals in ein Flugzeug setzen würden. Auch die Flugangst konnte uns also nicht mehr stoppen.

Die drei Geschwister, mein Mann Stefan (42), mein Sohn Tjade (1) und ich (41) machten uns auf den Weg. Für mich war es auch eine Art Abenteuer, muss ich gestehen. Neugier war eine Triebfeder – „was werden wir finden und was wird uns das sagen?“ –, aber eben auch das Gefühl, die drei Kinder von Karl Frey, und nicht zuletzt sein Enkel, müssten sich auf diese Reise begeben, um innere Fragen zu klären und um irgendwie anzukommen.

Online-Gräbersuche auf Homepage des Volksbundes 

Die Online-Gräbersuche auf der Homepage des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge hatte uns verraten, dass der gebürtig aus Huzenbach im Schwarzwald stammende Karl Frey auf dem Deutschen Soldatenfriedhof in Saldus, ehemals Frauenburg, beerdigt liegt. Die Endgrablage, so hieß es dort, sei „Block J Reihe 9 Grab 395“.

Und so standen wir am 26. Mai 2013, also rund 68 Jahre und sechs Monate nach seinem Tod, am Grab von Karl Frey. Ein erhabener Moment, und zugleich ein trauriger. Man findet – und findet doch nicht. Ein graues Steinkreuz unter unzähligen anderen; mehr als 20.000 deutsche Soldaten liegen in Saldus begraben. Auf jedem Kreuz sind vier Namen vorn und vier hinten eingraviert. Sterbliche Überreste von acht Menschen also ruhen in jeder einzelnen Grabstätte. Multipliziert man das Leid, das hinter jedem einzelnen Namen steckt – man kann es nicht fassen.

Dreimal 68 Jahre in kurzen Worten

Heidrun holt Heidekraut aus der Heimat aus ihrer Tasche und eine Ansichtskarte. Sie hat ihr Leben und das der Geschwister niedergeschrieben, so weit zumindest, wie sich dreimal 68 Jahre ohne Vater in kurzen Worten zusammenfassen lassen. Sie liest dem Vater die Notizen vor – und ich wünsche mir inständig, er könnte sie hören. Wir haben ein Grablicht mitgebracht, entzünden es. Und wir haben zwei Fotos dabei, echte Schätze, denn es gibt ja kaum Aufnahmen von Karl Frey. Wir stellen einen Abzug in einen kleinen Schrank in der Gedenkhalle, in dem schon andere Angehörige Erinnerungen wie Kerzen, Bilder und Briefe hinterlassen haben. Zu guter Letzt tragen wir uns ein in eine Art Gästebuch – wir wollen sagen: Ja, wir waren endlich da!

Was nun bleibt von dieser Reise? Ein gutes Gefühl allemal. Die Kinder haben nach all den Jahren, in denen sie nur vage Vorstellungen vom Vater und seinem Tod hatten, nun endlich ein Bild vor dem geistigen Auge. Sie sehen einen würdigen Ort, eine Ruhestätte, die diesen Namen wahrlich verdient.

Und wenn wir unserem Sohn eines Tages vom Krieg erzählen, und davon, was das NS-System für katastrophale und unendlich traurige Folgen hatte, dann wird er vielleicht ein wenig mehr verstehen als andere. Denn er stand mal am Grab seines Urgroßvaters.

Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hilft bei der Suche

55 Millionen Menschen haben laut Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren – eine unvorstellbare Zahl, hinter der das Schicksal eines Einzelnen leicht verloren gehen kann.

Um dem entgegenzuwirken, hat der Volksbund 2005 ein Internetprojekt gestartet: Die „virtuelle Spurensuche“ ermöglicht es, herauszufinden, wo die Toten ihre letzte Ruhestätte gefunden und was sie erlebt und erlitten haben. Ziel ist eine möglichst vollständige Dokumentation. Der Volksbund setzt dabei auch auf die Mitarbeit von Schulen, (Jugend-) Gruppen, Vereine, Verbände und anderen interessierten Menschen. Aus Namen auf Steinen sollen durch Berichte von Familie und Freunden, durch Bilder und Briefe wieder Personen mit eigener Geschichte werden.

Auf der Homepage www.volksbund.de/graebersuche.html findet sich eine Online-Datenbank, mit deren Hilfe auch die Gräber von Karl Frey und Hermann Kerkhoff recherchiert wurden. Über 4,5 Millionen Einträge gibt es dort. Außerdem können Suchanträge gestellt werden.