Mülheim. .
Ein heißer Tag in der Tschechoslowakei, Ende August 1968. Trotz der hohen Temperaturen ist dieses Kapitel Zeitgeschichte als „Prager Frühling“ in die Bücher eingegangen. Eine Zeit, in der neue Hoffnung, den starren Kommunismus zu verändern, unter den Tschechoslowaken keimt. Mit Reformen soll im Land ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ geschaffen werden. Andrzej Kieslowski (Name geändert) gehörte zu ihnen. Heute weiß der Wahl-Mülheimer: „Ich stand auf der falschen Seite.“
Und er erzählt seine Geschichte. Eine Geschichte, die er die „wahre Wahrheit“ nennt. Er will anonym bleiben. Zu groß ist noch seine Angst vor dem polnischen Geheimdienst. Verwandte von ihm wohnen noch in der alten Heimat. „Ich habe mitgeholfen habe, die Demokratie mit Füßen zu treten“, beginnt er. Größer als seine Angst, ist sein Verlangen, von damals zu erzählen.
Willkommen sind sie nicht
„Ich bin aufgewachsen zwischen zwei Welten. Ich kam kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen zur Welt. Meine Eltern waren Deutsche.“ Wie damals so üblich, wird Kieslowski als junger Mann im Jahr 1966 zum Militärdienst eingezogen. Dort ist er für die Versorgung der Helikopter zuständig, ein einfacher Soldat. Fotos, die er von sich und anderen Soldaten hat, entstehen heimlich. Fotografieren ist nicht erlaubt.
Bereits im Juni 1968 verlegt das polnische Militär seine Truppen in das 50.000-Einwohnerstädchen Schweidnitz, nahe der Tschechoslowakei. Er ist einer von ihnen. In der Nacht zum 21. August dann der Marschbefehl für insgesamt 650.000 Soldaten mehrerer Warschauer-Pakt-Staaten. „Um fünf Uhr morgens haben wir die tschechoslowakische Grenze überquert“, berichtet er, sichtlich aufgewühlt. Wenige Stunden später kommen die polnischen Truppen am Flughafen der Stadt Königgrätz an. Sie sind im Land ihrer tschechoslowakischen Brüder, die ebenso Teil des Warschauer Paktes wie die Polen selbst sind. Doch willkommen sind sie nicht.
Unmut im Lager
Auf den Straßen sind in dicken, weißen Kreidelinien Pfeile nach Warschau und Moskau gemalt, Kilometerangaben darunter. Sprüche wie „Freunde, warum kommt ihr mit Waffen?“ stehen auf Häuserwänden. Noch am selben Tag kommt es zu einem Angriff der tschechoslowakischen Miliz, Molotowcocktails fliegen. „Wir sind geflüchtet, denn ich und meine Kameraden waren nur Versorgungstrupps für die Helikopter.“
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Nach drei Tagen Stationierung verbreitet sich Unmut im Lager. Die Soldaten wollen wissen, warum sie in einen verbündeten Staat einfallen. „Wir haben unsere Vorgesetzten gefragt, was wir überhaupt in der Tschechoslowakei machen.“ Die Antwort der Offiziellen stellt sich später als Lüge heraus: „Uns wurde erzählt, dass eine Armee der Nato-Mitgliedsstaaten sich für einen Angriff auf die Tschechoslowakei mobilisiert. Man sagte uns, wir müssen unsere tschechoslowakischen Brüder beschützen.“ Kieslowski fasst traurig zusammen: „Wir dachten, wir würden helfen, doch im Endeffekt waren wir die Unterdrücker.“
Alleine nach Deutschland
Drei Monate später wird er mit den polnischen Truppen in die Heimat zurückbeordert. Die Reformen der Tschechoslowakei sind im Keim erstickt. Anfang des Jahres 1969 hat der Militärdienst für den jungen Soldaten ein Ende.
„Anfang der 80er-Jahre kam ich alleine nach Deutschland. Meine Frau und meine Kinder folgten mir erst Jahre später, nachdem ich mir eine Existenz in Mülheim aufgebaut hatte.“ Die Erlebnisse vor 45 Jahren, als er mithalf, den Prager Frühling zu zerschlagen, kann der ehemalige Soldat nicht vergessen. „Mit meinen Erlebnissen könnte man ein ganzes Buch füllen.“