Mülheim.

Die Fälle von Missbrauch sind erschreckend – ob in kirchlichen oder staatlichen Einrichtungen, einer grenznahen Kneipe, im österreichischen Kellerverlies oder im Kinderzimmer der Kinski-Tochter. Und häufig mitten in der Familie. Die Familie ist immer ein großes Thema bei den „Stücken“ gewesen.

„Sie ist der kleinste Orte aller Tragödien und Komödien“, sagt Jürgen Berger, Sprecher des Auswahlgremiums. Umso verständlicher sei es, dass Autoren diesen Raum intensiv und konzentriert wie noch nie „nach Missbrauchssignalen abhören“, so der Theaterkritiker.

Eine Reihe der acht ausgewählten Stücke für die 38. Mülheimer Theatertage vom 11. bis 31. Mai beschäftigt sich mit dem Missbrauch-Thema. Allen voran Elfriede Jelinek. Nach einer Pause im vergangenen Jahr ist sie diesmal wieder dabei: „FaustIn and out“ ist ein Sekundärdrama, bei dem sie den literarischen Missbrauchsfall im Ur-Faust mit einem aktuellen Fall verknüpft. „Einer der besten Texte von Jelinek“, so Berger.

100 Stücke standen zur Auswahl

Dagegen nähert sich Mülheim-Debütantin Katja Brunner (22) dem Thema zugespitzt aus Sicht einer Lolita, die kein Opfer sein will und sich die Freiheit verschafft, die Grenzen des Verführens, Begehrens und Besitzens auszuloten.

Die Nominierung der Autoren bewegt sich in diesem Jahr zwischen den Polen Klassiker und nächste Generation. 100 Stücke standen zur Auswahl. „Ein ausgesprochen starker und frischer Jahrgang, weil sich starke Jungautoren zu Wort gemeldet haben“, betont Berger. Das Gremium hatte die Qual der Wahl. Und am Ende wurden es statt sieben dann acht Stücke und Autoren.

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Zu den Klassikern zählt Franz Xaver Kroetz, der 1976 übrigens als erster den Dramatikerpreis für „Das Nest“ erhielt. Um Kroetz, der zu den sozialkritischen Autoren zählt, war es lange still. Doch nun ist er wieder voll da. In „Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind“ geht er dem Fall in einer Saarbrücker Kneipe nach, wo der kleine Pascal gequält, vergewaltigt und vielleicht sogar ermordet wurde. Dabei schlägt der grantelnde Kroetz ganz neue Töne an.

Eine neue thematische Seite bei den Theatertagen schlägt Moritz Rinke an: Der Meister der Beziehungskomödie beschäftigt sich in „Wir lieben und wissen nichts“ mit den Neurosen des modernen Paarwesens. Tief in die Keimzelle der Familie dringen die Stücke-Debütantinnen Azar Mortazavi (Ich wünsch mir eins) und Marianna Salzmann (Muttersprache Mameloschn). Bereits bekannte Gesichter in Mülheim sind die Jungautoren Nis-Momme Stockmann (Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir) und Felicia Zeller, die „X-Freunde“ mitbringt.

Hauptsache nicht matt und einfallslos

Ob soziale Geschichte, klassisches Drama oder frei komponiert: „Die Stücke durften alles sein, nur nicht matt und einfallslos“, sagt Autor Oliver Bukowski als Sprecher des Auswahlgremiums für die Kinder-Stücke, die zum vierten Mal vom 13. bis 17. Mai zu sehen sind. In Form und Inhalt habe sich das Kindertheater in diesem Jahr angenehm vielfältig gezeigt. Und so spiegele die Auswahl der nominierten Autoren mit ihren fünf Stücken den Charakter des gesamten Jahrgangs. Zwar sei kein inhaltlicher Trend festzutreten, „aber uns fiel auf, dass sich viele Stücke mit den Kehrseiten von sozialer Mobilität und Individualitätskult beschäftigen“. Sei es durch Wohnortwechsel oder Scheidungen, Verluste von Vätern, Müttern, Freunden, vertrauter Umgebung und Heimat: „Was Eltern sozial beweglich werden ließ, muss von ihren Kindern ausgelitten werden.“