Er will Theater für eine Generation machen, die für traditionelle Formen schwer zu erreichen ist. Deshalb hat für Sven Schlötcke , der am Raffelberg das Junge Theater betreut, jede neue Inszenierung etwas Laborartiges, ist sie ein neues Experiment in der Hoffnung die Jugend für das Spiel zu begeistern und natürlich auch längerfristig an das Haus zu binden. Wie sich in den Gesprächen der Jugendlichen mit den Theaterpädagogen immer wieder erweist, wirkt der Bruch mit den Konventionen und den Erwartungen zunächst manchmal ziemlich verstörend, begeistert dann aber immer wieder. Mal tritt Iphigenie im Adidas-Dress auf, dann wird „Kabale und Liebe“ am Abgrund comichaft verdichtet und es dröhnt Rammstein über die Rampe. Und jetzt mit einem Rock-Star. Aber es geht nicht nur um Äußerlichkeiten.

Neben den Klassikern, die auch Abiturstoff sind, stehen aber auch immer wieder thematische Arbeiten, bei denen die Stücke im wesentlichen aus den Improvisationen bei den Proben entstehen. Zu diesem Typ gehört auch „Scham“, das jüngste Projekt, das am Dienstag. 26. Februar, um 19.30 Uhr am Theater an der Ruhr Premiere feiert. Regie führt Albrecht Hirche, der sich mit „Ich und andere Lügen“, 2010 ausgezeichnet als bestes Jugendstück in NRW, schon einmal einem ganz ähnlichen Thema genähert hat. Damals ging es um Identität. Scham ist ein Gefühl, das eine große Rolle spielt, wenn sich der Körper während der Pubertät zu verändern beginnt. Deshalb ist es für Schlötcke naheliegend, sich damit zu beschäftigen. „Kinder haben kein Problem damit, nackt im Sandkasten zu spielen und dabei beobachtet zu werden“, erzählt Schlötcke. Plötzlich spiele dann der Blick der anderen eine wichtige Rolle und der junge Mensch versuche das Ideal, das ihm vermittelt werde, mit seinem Selbstbild abzugleichen. Tabus und Schuld spielen eine Rolle, aber es hat nicht nur etwas Negatives. Und diese Ambivalenz verdeutlicht der Rockmusiker Lord Bishop, den Schlötcke in Berlin getroffen hat und ihm irgendwann ins Netz gegangen ist und bereit war mitzumachen. Er ist ein Bär von einem Kerl, spricht nur Englisch und verkörpert gelebten Rock ‘n’ Roll. In seiner Bühnenperformance als Musiker spielt Sexualität eine große Rolle, gleichzeitig empfindet er als Privatmensch die Blicke der anderen als sehr bedrückend. Für ihn als schwarzen Musiker ist Rassismus immer noch real. Es gibt Momente, da schämt er sich für seine Hautfarbe. Für „Scham“, das kein Musiktheater ist, hat er einige Songs geschrieben und spielt sie auch. Kein Hardrock wie sonst auf seinen Konzerten, die Schlötcke begeistern.

Auch Albrecht Hirche dürfte bei Jugendlichen als cooler und abgefahrener Typ ankommen. Zerschlissene Jeans, unter der Cowboystiefel hervorlugen, lange Mähne, Bart, um den Hals mehrere Ketten und an jedem Finger ein Ring. Theater macht er eher aus dem Bauch heraus und weniger kopflastig - sagt er zumindest. Sven Schlötcke kennt ihn schon seinen Tagen am Theaterhaus Jena in den 90ern. Hirche ist in der freien Szene ebenso präsent wie an Stadttheatern. In Mülheim ist er mit seiner vierten Inszenierung neben Jo Fabian eine Konstante des Jungen Theaters und wie dieser auch ein Gesamtkünstler, der auch für Kostüme, Bühnenbild und Video verantwortlich ist. Der 53-Jährige, der an der Universität Hildesheim das Studium mit der Forderung belebt: „Theater muss wie Fußball sein“, sucht bei Scham den Minimalismus.

Dafür hat er auf der Bühne ein Spielfeld entworfen, das stark an Lars von Triers preisgekrönten Film „Dogville“ (2003) erinnert. Auf dem Bühnenboden ist der Grundriss eines Hauses aufgemalt, pantominisch wird angeklopft und es ertönt dazu das entsprechende Geräusch. Aber auf der Bühne steht auch noch ein Pappkarton, der als miserable Herberge herhalten muss, in den zwei Personen hineingepfercht werden – zu einem schamlos hohen Preis versteht sich. Aber wie beim Fußball kommt es auch auf der Bühne auf die Mannschaft an und die sei jetzt homogen wie selten zuvor. Neben Gariella Weber, Marco Leibnitz und Thomas Schwerberer steht noch Nils Lange auf der Bühne, der bereits in „Törless“ mitmachte, sowie Anjorke Strechel und Denis Schmidt. Das Spielfeld erstreckt sich bereits auf das Foyer, wo auf Tafeln ebenso wie im Programmheft Dinge stehen, für die sich die Schauspieler schämen. Diese Fragen müssen die Schauspieler in einer schulähnlichen Situation beantworten. Wie sie in der Schule den ausländischen Mitschüler verpfiffen haben,der nur laut gelacht hat oder wie die Mutter betrunken auf den Schulhof torkelte, lauten Antworten. Das ganze erinnert dann an eine Therapierunde. Ausgangspunkt war für Hirche die Überlegung, was das Schamloseste sei, was es derzeit gebe. Für ihn sind es die Soaps im Fernsehen. So hat er als Rohmaterial eine 24seitiges Skript für eine siebenteilige Staffel geschrieben. „Das war eine scharfe Nummer, ein geiler Abend“, sollen die Jugendlichen denken, hofft Hirche, „und dass unter der Dusche oder im Auto die eine oder andere Szene nachwirkt.“