Das Spiel beginnt schon vor dem Theater. Auf dem Vorplatz wäscht eine junge Frau ein Auto. Im Foyer geht es weiter: dort wienert ein Mann Schuhe, ein anderer poliert Gläser und es ist natürlich ein Schwarzer, der die Toiletten hütet, obwohl die Premiere von „Scham“ erst in 15 Minuten beginnt. Im bunten Kittel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sitzt der Rockmusiker Lord Bishop dort weit nach vorne gebeugt, greift mechanisch zum Lappen und Reinigungsmittel, um nach der Benutzung still und sorgfältig die Urinale abzuwischen. Fehlt nur noch der Teller für die Groschen.

Der 50-Jährige New Yorker erweist sich für den Abend mit seiner Ausstrahlung als Glücksfall, obwohl und gerade weil er im Ensemble ein Fremdkörper bleibt. Alle Schauspieler tun Buße für Fehltritte aus ihrer Jugend, für die sie sich schämen. Sie haben gestohlen, einen Mitschüler verpetzt oder einen Frosch so lange aufgeblasen bis er platzte. Ihre Sünden sind ausführlich, versehen mit Namen und Foto auf Informationstafeln direkt neben ihnen nachzulesen. Ist das etwa real? So soll es zumindest scheinen.

Schauspieler auf der Schulbank

„Scham“ ist keine Inszenierung eines bereits vorhandenen Theatertextes. Regisseur Albrecht Hirche und Sven Schlötcke, der das junge Theater betreut, haben den Abend mit dem Ensemble durch Improvisationen erarbeitet. Das Premierenpublikum, das aus zahlreichen Achtklässlern besteht, ist interessiert und einige machen von der Sühneaktion, ehe die Glocke schrillt, mit dem Handy noch rasch ein Foto. Das Signal gibt es ansonsten im Theater an der Ruhr nicht, es kündigt die bevorstehende Unterrichtsstunde an.

So müssen die Schauspieler erst einmal die Schulbank drücken, dann bekommen sie vom unsichtbaren Lehrer Krause über Lautsprecher ihre Aufgaben zugewiesen. Sie sprechen wie militärisch gedrillt im Chor. Einer hält schließlich ein obszöne Zeichnung in die Kamera, was vom Lehrer, aber auch bei Mitspielern, strengstens beanstandet wird.

Die Ausdehnung der Spielzone erstreckt sich bei dieser Inszenierung auch auf das Programmheft, das dieses Mal keinen theoretischen Hintergrund zum Thema enthält, sondern in Form eines orangen Schulheftes, das die Selbstentblößung und soziale Besttrafung der Schauspieler aus dem Foyer noch weitertreibt. Unter ihrem echten Namen sollen hier die sieben Schauspieler sowie die beiden Spielleiter in Form einer Klausur über ihr Reinlichkeitsverhalten, erlebte schamhafte Situationen, Intimitäten wie die Anzahl der bisherigen Sexualpartner und einiges mehr Auskunft geben. Dieser Fragebogen verstärkt noch den Eindruck der Authentizität des Abends, die in Zeiten des Reality-TVs ja so wichtig ist.

Was später folgt, ist dann auch eine grotesk überdrehte Familien-Soap in sieben Teilen. Um die Überspitzung deutlich zu machen, hat Hirche eine Kunstsprache mit starkem bajuwarischem Einschlag kreiert, die für einige Irritation sorgt. Turbulent geht es in der Wohnung der Familie zu, die als Spielfeld auf dem Bühnenboden aufgeklebt ist: Vater arbeitslos, Mutter ist Alleinverdienerin, deshalb muss das Kinderzimmer vermietet werden. Die Mutter bändelt mit dem Officer aus der Nachbarschaft an, der Bruder bedrängt die Schwester, die vom Vater geschlagen wird und ein Verhältnis mit dem Mieter hat, wobei nicht nur beim Flaschendrehen eine Menge Alkohol fließt.

Messerstecherei

Also kein Klischee, das ausgespart bleibt. Und doch löst sich nach einer Messerstecherei alles in Wohlgefallen aus. Der Vater (Thomas Schweiberer) hat die Scham entdeckt, der Mieter (Denis Schmidt) mit dem Sohn (Marco Leibnitz) und der Tochter (Anjorka Strechel) „hat den Plan gefasst, den Blicken der anderen Stand zu halten und auszuziehen.“ Da bei dem kurzweiligen und temporeichen Spiel allerlei peinliche Themen erörtert werden, erröten die Spieler zunehmend. Doch bei all der temporeichen Kolportage hätte man sich einige ruhige und eindringliche Momente mehr gewünscht. Zumindest bei Anjorka Strechel und Thomas Schweiberer klingt Nachdenklichkeit an.

Das junge Publikum folgt aufmerksam und gebannt, lacht über die eingestreuten Kalauer und singt beim letzten Song von Lord Bishop über das zwiespältige Gefühl der Scham begeistert mit. Schlusspunkt eines ungewöhnlichen, aber eindrucksvollen Theaterabends.
Weiterer Termin: 12. 3., 18 Uhr