Mülheim. Obwohl Claudia Grehn und Darja Stocker viele Interviews verarbeiten, wirkt ihr Stück „Reicht es nicht zu sagen, ich will leben“ klischeehaft.
Am Ende taumelt die junge Frau stammelnd und Blut spuckend über die Bühne: „Das können die doch nicht machen.“ Die, das sind die knüppelnden Polizisten, die nicht zu sehen waren, ihr aber bei der Demo die Zähne ausgeschlagen haben und sie gleich verhören wollen. In der Fratze der Gewalt offenbart das kapitalistische System sein wahres Gesicht.
In die Revolte mündet das „Reicht es nicht zu sagen, ich will leben“ fast mit einer ausweglosen Notwendigkeit. Die jungen Autorinnen Claudia Grehn (* 1982) und Darja Stocker (* 1983) haben sich für ihr Stück, das in Weimar und Leipzig uraufgeführt wurde, intensiv mit dem Formen des Widerstands beschäftigt und in Heimen für Obdachlose, Flüchtlinge und Senioren recherchiert.
Aus der Mottenkiste
Entstanden ist dabei ein ganzes Gesellschaftspanorama, aber eins mit einer deutlicher Schlagseite, das die Welt plakativ in Schwarz und Weiß teilt. In den Fokus genommen werden die Guten, die mit dem letzten Rest Idealismus für die Würde der Menschen in den Heimen ringen. Gegenüber gestellt sind ihnen nur wenige Repräsentanten des System wie die Frau im Flüchtlingsheim, die die Besucherin schikaniert, der Unternehmer Jürgen, der seinen Mitarbeiter um den verdienten Lohn prellt, ein schmieriger Politiker und Sebastian, der zwar das Unrecht spürt, sich aber damit schon arrangiert hat.
Das klingt wie aus der Mottenkiste. „Ich verstehe die Leute nicht, die glauben, bei jeder Ungerechtigkeit ihren Körper dazwischenwerfen zu müssen, nur um das Gefühl zu haben, mal wieder mit ihrer eigenen Vorstellung von Ethik im Reinen zu sein“, sagt er in einer Diskussion mit seiner Frau, die sich um Flüchtlinge kümmert. „Das wäre, die Waffenfabrik hier in die Luft zu sprengen“, kontert sie.
Ohne Rechtsbruch geht es nicht mehr
Ohne Rechtsbruch kann es in der Gesellschaft aber gar nicht mehr funktionieren, wollen die beiden Autorinnen nahelegen. Das provoziert und zwingt zur Positionierung. Bei allem Furor, mit dem das junge Ensemble spielte, fiel die allerdings überraschend positiv aus, wie der begeisterte Applaus zeigte. Würde der Unternehmer die Steuern abführen, die er zu zahlen hat, könnte er einpacken und der Flüchtling kann nur seine Würde erlangen, indem er in die Illegalität flüchtet.
Und dann ist da noch Brietz, das Gravitationszentrum des Stücks. Als Wirtschaftsanwalt stand er zunächst auf der anderen Seite, sah seine Ideale verraten und verwandelte sich zu einem Wutbürger, der, einem Michael Kohlhaas ähnlich, mit juristischen Mitteln vergeblich gegen das System vorgeht. Er stürzt ab, landet in der Gosse, steht an der Tafel an.
Er ist die komplexeste Figur, die anderen sind kaum mehr „als Kleiderständer für die Thesen“, wie es Moderator Gerhard Jörder beim Publikumsgespräch fragend in den Raum stellte. Doch das Scheitern eines einzelnen Individuums war den beiden Autorinnen zu wenig. Der Umfang des Stücks sei im Probenprozess schon gut um die Hälfte geschrumpft. Ein Moment der „Überforderung“ ist allerdings geblieben. Viele Fäden in den angerissenen Geschichten werden nicht mehr aufgenommen.
Kostüme erinnern an Fantasie-Panzerungen
Sechs Schauspieler müssen 24 Rollen spielen, die sich nicht direkt ergeben. Teilweise schlüpfen Frauen in Männerrollen. Der Wechsel wird nur durch Kleidungsstücke angedeutet, wobei auffallend viele Kostüme an Korsetts oder Panzerungen aus der Fantasiewelt erinnern. Größter Pluspunkt der Inszenierung war die Bühne: ein hölzerner Laufsteg, auf dem die Haltung zur Gesellschaft präsentiert wurde.
Prellbock und Rampe waren Sinnbilder für Aufstieg und Fall und die vergeblichen Anstrengungen. Der Laufsteg war direkt mit den Stufen für das Publikum verbunden, so dass die Schauspieler durch die Reihen gehen konnten, so viel unmittelbarer wirkten und während der Demonstration Hilfe suchend ihre Hände nach den Zuschauern ausstreckten, die hilfsbereit zugriffen.