Mülheim. Mit minimalen Gesten hauchen die Burgschauspieler Roland Schimmelpfennigs Stück „Das fleigende Kind“ Leben ein. Die zurückhaltende Spielweise sorgt dafür, dass es nicht zum Rührstück wird.

Roland Schimmelpfennig polarisiert wohl wie kein zweiter zeitgenössischer Autor die Theaterwelt. Die einen sind fasziniert von dem Sog den er in seinen Geschichten entwickelt und von der Zeit, die er wie ein Gummiband bis kurz vor das Zerreißen dehnt. Die anderen sprechen abschätzig von einer kalkulierten Mechanik oder gar von Malen nach Zahlen. 30 Stücke hat der 44-jährige geschrieben, die in 20 Sprachen übersetzt wurden. Erst vor zwei Jahren errang er mit dem „Goldenen Drachen“, in dem fast das gleiche Ensemble spielte, den Dramatikerpreis.

„Jedes Drama ist konstruiert. Hat man das je einem Kleist vorgeworfen?“, fragte Burg-Schauspielerin Christiane von Poelnitz im Publikumsgespräch nach der Stücke-Aufführung am Mittwoch in der gut besuchten Stadthalle und verteidigt ihren Autor, der auch Regie führt. In „Das fliegenden Kind“ geht es um das größte anzunehmende persönliche Unglück: Ein Vater tötet an St. Martin aus Versehen sein eigenes Kind.

Schon als Moderator Gerhard Jörder darauf hinwies, dass zahlreichen Kritikern das Stück zu moralisch erscheine, hatte sich Schauspielerin Barbara Petritsch schützend vor den Autor gestellt: „Es wäre ja naiv, wenn das Kind sterben müsste, nur weil die Eltern fremdgehen wollen.“ Aber warum küsst dann die Frau ihren Liebhaber ausgerechnet unter dem Fresko „Todesengel“ und warum heißt die brasilianische Wissenschaftlerin, die über den Regenwald referiert und den Ehemann so verrückt macht, dass er mehrere Warnungen des Schicksals ignoriert, ausgerechnet Dolores, also Schmerz? Schimmelpfennig spricht von Zivilisationskritik, doch die scheint hier mehr schmückendes Beiwerk.

Distanz und eine kühle Atmosphäre

Sechs Akteure verteidigen einen Autor und haben zuvor, auf der Bühne, auch seinen Text gerettet. Das Thema erfordere eine ganz spezielle Erzähl- und Spielweise, um daraus weder einen Tatort noch ein emotional überwältigendes Drama zu machen, erzählen sie. So ist nach einigen Minuten schon fast alles klar.

Die Last der Schuld des Vaters und die Verzweiflung der Mutter lastet nicht auf einer Schulter, das sechsköpfige Ensemble wechselt sich immer wieder ab, bringt mehrere Szenen minimal variiert mehrfach hintereinander. Das schafft Distanz und eine kühle Atmosphäre, manchmal führt es auch zu Langweile. Für von Poelnitz ist das auch als reale Mutter eine enorme persönliche Erleichterung. „Je näher das Schicksal kommt, desto größer ist die Angst, ob zu Hause alles in Ordnung ist.“ Gerade nach so einer Vorstellung griffen viele Eltern zum Handy.

Für die Schauspieler bedeutet der Text Minimal-Schauspiel. Oft sind es gar keine Dialoge, die sie sprechen, sondern Beschreibungen von Personen, Situationen und Handlungen. Je näher der Höhepunkt rückt, desto schneller sind die Szenenwechsel. Wie Spannung erzeugt wird, hat sich Schimmelpfennig vom Film abgeschaut. Oft ist es nur ein Ausdruck, die aufgerissenen Augen und der offene Mund für den Schrecken, eine Geste, die den kurzen Rock der Mutter andeutet oder ein Requisit, mit dem die Schauspieler agieren. Immer wieder kommen Tunnelarbeiter in den Fokus. Sie sprechen vom Teilchenbeschleuniger CERN, wo Karambolage mit der gleichen ausweglosen Gewissheit bevorsteht wie auf der Straße.

"Es ist wie ein Mannschaftsspiel"

Lässig lässt Peter Knaack den Schlüssel seines neuen Autos um den Finger wirbeln und als Kind reckt er strahlend sein Matchboxauto in die Luft. Und wenn der Blick auf die Kinder in der Kirche fällt, rempeln sich die Frauen einmal kurz an und lachen. Das reicht, damit die Szene im Kopf lebendig wird. Die Bühne ist ein schwarzer Kasten und wird zu einem idealen Projektions-, aber auch zu einem Klangraum: die Schauspieler zischen, wenn ein Auto vorbeifährt, krächzen, wenn die S-Bahn um die Ecke kommen und als es um den Regenwald geht, sorgt ein Schnattern und Geschrei für die perfekte Illusion einer Tierwelt.

Und da sind natürlich noch die drei Glocken, die Johann Adam Oest virtuos bedient. Mit dem Glöckner hat das Kind nach dem Unfall noch ein kurzes Gespräch über die Ewigkeit. Solche surreal-poetischen Momente sind auch ganz typisch für Schimmelpfennig. „Es ist wie ein Mannschaftsspiel. Da verbietet es sich, solistisch in den Vordergrund zu drängen“, schwärmt Oest von der Inszenierung. „Es ist ein rauschhaftes Erlebnis, wir funktionieren wie ein Orchester.“