Mülheim/R. In Mülheim/Ruhr sind die 37. „Stücke“-Tage mit einer Dramatisierung von Peter Handkes „Immer noch Sturm“ angelaufen. Bis zum 7. Juni wird wieder das beste neue Stück des Jahres aus dem deutschsprachigen Raum gesucht.
Die Situation der deutschen Bühnen ist nicht rosig. Aber die der Stückeschreiber ist geradezu prekär. Theaterregisseure greifen immer häufiger zu Filmstoffen, da stehen nicht mal Til Schweigers „Keinohrhasen“ unter Artenschutz. Gern werden auch alte Romane auf die Bühne gewuchtet, möglichst dickleibige von Tolstoi, Dostojewski, Thomas Mann. Und Klassiker von „Faust“ bis Shakespeare sind ohnehin beliebter als jedes Gegenwartsstück – sie sind nun mal die besseren Steilvorlagen für Regietheater, weil dessen Eingriffe hier viel besser auffallen.
Doch auch neue Stücke werden ja fast nie vom Blatt weg inszeniert. Roland Schimmelpfennig, der sich hierzulande am ehesten auf das versteht, was im Angelsächsischen als „Well made play“ gilt, hat einmal beklagt, dass in den Inszenierungen seiner Stücke garantiert ein Jeep oder ein U-Boot auf die Bühne komme, wenn sein Text einen Tisch erfordere. Er müsse dann von einem Jeep oder einem U-Boot schreiben, damit ein Tisch auf der Bühne stehe.
Bei den diesjährigen Mülheimer „Stücke“-Tagen aber, die nun einmal mehr das beste neue deutschsprachige Stück des letzten Jahres ermitteln wollen, kann Schimmelpfennig unbesorgt sein. Zum einen führt er bei seiner jüngsten Arbeit „Das fliegende Kind“ selbst Regie, zum anderen versammeln die „Stücke“ ja stets die Uraufführungen, die sich denn doch durch weitgehende Texttreue auszeichnen.
Im Falle von Peter Handkes „Immer noch Sturm“, mit dem die „Stücke“ am Samstag in der Mülheimer Stadthalle eröffnet wurden, zeigt sich allerdings, dass die Uraufführung nicht immer die erste Wahl sein muss. Dimiter Gottscheff hat Handkes Text, der zwar ein Personenverzeichnis aufweist, ansonsten aber wie ein Roman daherkommt, mit dem Hamburger Thalia Theater für die Salzburger Festspiele über vier Stunden lang in Szene gesetzt: Ein Ich erinnert sich und grübelt über seine Vorfahren im slowenischen Kärnten der 30er, 40er Jahre, einfache Dörfler, die im Mühlrad der Geschichte zermahlen werden, unter der Nazi-Herrschaft vor allem, aber mit deren Ende hört das Entfremden vom Eigenen nicht auf.
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Von Anfang bis kurz vor Schluss rieseln unaufhörlich grüne Schnipsel aus dem Bühnenhimmel, und dieses stille Bild für die verrieselnde Zeit, für den ewigen Herbst hätte genügt. Doch es wird aufgedreht, theatralisch aufgedonnert mit Volksmusik und vehementem Schauspiel, mit einem Deutschlandlied aus Lachern und bedrohlichem Trommeln. So wird behauptet, wo Handkes Text nur fragt, tastet, mäandernd sucht. Alles Theatralische lenkt nur ab von der Wortmusik, die den Sätzen innewohnt. Und spätestens im Schlussmonolog wird klar, dass diese poetische Geschichtsopfersuche nicht über vier Bühnenstunden trägt.
Drei weitere Inszenierungen
Inzwischen gibt es, in Karlsruhe, Nürnberg und ausgerechnet in Mülheim, drei weitere Inszenierungen des Stoffs. Und in Roberto Ciullis Fassung fürs Theater an der Ruhr leuchten Handkes Worte viel intensiver, durch größere Zurückhaltung, durch stärkere Kürzungen. Hier ist zu sehen, zu hören, warum man Handke durchaus zu den Favoriten für den Mülheimer Dramatikerpreis zählen muss, der am 7. Juni vergeben wird.