Mülheim. Der Berufsverband warnt: Stadtweit gibt es noch genug Kinder- und Jugendärzte, aber in der Stadtmitte wird es schon eng. Ärzte sind auch als Sozialarbeiter gefragt.

Ulrike Breckling und Holger van der Gaag sind sich einig. „Das ist ein Traumberuf“, sagt die 43-Jährige. „Das ist der schönste Facharztberuf, den es gibt“, sagt der 52-Jährige. Beide sind niedergelassene Kinder- und Jugendärzte in Mülheim. Sie praktiziert in der Stadtmitte, er in Styrum. Beide berichten von dankbaren und treuen Patienten, von einer umfangreichen, aber auch abwechslungsreichen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern.

Das hört sich gut an. Dennoch warnt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte jetzt vor einer Versorgungslücke, er geht davon aus, dass die Zahl der niedergelassenen Fachkollegen bis 2040 um 20 Prozent sinken wird. Wie sieht die Situation in Mülheim aus?

Mediziner, Sozialarbeiter, Erziehungsberater

Breckling und van der Gaag teilen die Einschätzung ihrer Interessenvertreter, dass die Arbeitsbelastung der Kinder- und Jugendärzte trotz sinkender Geburtenraten eher zunimmt. Beide berichten, dass sie immer öfter nicht nur als Mediziner, sondern auch als Sozialarbeiter und Erziehungsberater gefragt sind. „Eltern tun sich heute sehr viel schwerer, ihren Kindern Grenzen zu setzen“, berichtet Breckling aus ihrem Praxisalltag.

Und van der Gaag schätzt besonders „das Vertrauensverhältnis, das über Jahre wächst und auch dazu führt, dass Jugendliche in der Pubertät sich von uns als ihrem Arzt manchmal eher etwas sagen lassen als von ihren Eltern.“ Und so werden in der Sprechstunde längst nicht mehr nur Krankheitsbilder, sondern auch Sprachförderung, Medienkonsum, Bewegungsmangel oder ungesunde Ernährungsweisen thematisiert.

Viele kinderreiche Zuwanderungsfamilien

Angesichts von stadtweit zehn niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten spricht van der Gaag „von einer zur Zeit noch optimalen Versorgungssituation.“ Hinzu kommt, dass die kassenärztliche Vereinigung die Niederlassung aus finanz- und budgettechnischen Gründen in jeder Ruhrgebietsstadt auf einen Kinder- und Jugendarzt pro 20.000 Einwohner begrenzt. Van der Gaag will nicht ausschließen, dass sich die Versorgungslage bereits in den nächsten fünf Jahren verändern könnte, wenn drei Kollegen, die jetzt schon über 60 sind, in den Ruhestand gehen und ihre Praxis an einen Nachfolger verkaufen wollen. Ob ihnen das gelingen wird, kann und will er heute noch nicht einschätzen.

„Früher waren wir hier zu dritt. Heute bin ich allein“, schildert seine Kollegin Breckling ihre Situation in Stadtmitte. „Wir haben hier viele kinderreiche Zuwandererfamilien und viele Familien, die sich nicht einfach eine Fahrkarte kaufen können, um in einen anderen Stadtteil zu fahren. Aber diese Familien brauchen ja auch einen Kinderarzt“, schildert Breckling die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit. Zwei Kinderärzte sind in den letzten Jahren aus der Stadtmitte weggezogen. In einem Fall waren die Baustellensituation in der City und fehlende Parkplätze die Auslöser für die Praxisverlagerung.

"Das Risiko ist kalkulierbar"

Breckling und van der Gaag betonen, dass sie von ihren Praxen gut leben können, obwohl sie, anders als in der Erwachsenenmedizin, keine kostenpflichtigen Individuellen Gesundheitsleistungen (IGEL) abrechnen können und wollen. Dennoch kennen sie auch viele junge Kolleginnen und Kollegen, die vor dem finanziellen Risiko und der Arbeitsbelastung einer Selbstständigkeit zurückschrecken und lieber als fest angestellte Ärzte in einer Klinik arbeiten. „Als niedergelassener Arzt kann man sich nicht allein auf die Medizin konzentrieren, sondern muss sich auch mit Buch- und Personalführung beschäftigen. Man kann sich da aber hineinarbeiten und das Risiko ist kalkulierbar“, macht van der Gaag dem Ärztenachwuchs Mut.

Aber Breckling, die Mutter eines zwölfjährigen Sohnes ist, macht keinen Hehl daraus, dass sie ohne die Unterstützung ihrer Eltern Beruf und Familie kaum unter einen Hut bekommen könnte. Und der zweifache Familienvater van der Gaag weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass weit über 50 Prozent der angehenden Kinder- und Jugendärzte Frauen sind, für die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine besonders hohe Priorität habe.