Essen. 16 Jahre alt war sie, als die Mauer errichtet wurde. Damals fuhr sie von einer West-Berliner Party zurück in den Osten. Wenige Jahre später floh sie aus der DDR. Das ist lange her. Doch noch heute ist die Angst da, wenn die Essenerin nach Berlin fährt.

Als Wessi kann man sich das kaum vorstellen, aber da sitzt am 14. August 1961, also am Tag nach dem Mauerbau, die junge DDR-Bürgerin Ingrid Vahle in einer S-Bahn, die von West-Berlin in den Osten fährt. Ganz allein im Waggon, das kann man sich denken. Und dann steigt an der Jannowitzbrücke ein Volkspolizist zu, der sich ihre Papiere besieht und flüstert: „Hast du dir das auch gut überlegt?“

Der Zufall hatte es so gewollt, dass die 16-Jährige aus Brandenburg/Havel in der Nacht zum 13. August auf einer Party bei einem Freund in West-Berlin war. Von der Schließung der Grenze hörte sie, als ein Gast, der sich verabschiedet hatte, plötzlich wieder vor der Tür stand. „S-Bahn fährt nicht“, berichtete er, „in ganz Berlin geht nichts mehr.“ Für Ingrid Vahle bedeutete das, dass sie schnell eine Entscheidung zu treffen hatte.

Im Westen bleiben? Seit sie denken konnte, haderte sie mit dem Leben in der DDR. War zwar bei den Pionieren, in der FDJ. Half auch, wo sie konnte, aber das ganze Gerede vom Sozialismus war ihr zuwider. Der Vater hatte sie so erzogen. Über Flucht wurde in ihrer Familie gesprochen.

Oder zurück in die DDR? Sie war ja noch minderjährig. Was drohte ihren Eltern, wenn sie floh? Und dann war da die Lehrstelle, die sie in zwei Wochen antreten wollte. „Wir hauen ab“, hatte der Vater immer gesagt, „aber erst wenn das Kind seine Ausbildung hat.“ Daher setzt sich Ingrid in die S-Bahn nach Osten, fährt über die Jannowitzbrücke und antwortet dem freundlichen Vopo: „Ich kann ja jederzeit wieder rüber.“ Naiv ist sie, aber neun von zehn seien damals naiv gewesen, sagt Ingrid Vahle heute, und damit endet der erste Teil ihrer Geschichte.

Fluchthelfer gesucht

September 1961: Zwei Wochen nach dem Mauerbau fängt Ingrid Vahle also ihre Lehre an, Werkstoffprüferin beim „VEB Edelstahlwerk 8. Mai 1945“ in Freital/Sachsen. Sie spielt in einer Kabarett-Gruppe mit, ein Vorgesetzter mit guten Beziehungen macht ihr eine Karriere beim Berliner Rundfunk schmackhaft. Einzige Bedingung: Eintritt in die SED. Sie hasst es.

Silvester 1963 darf der West-Berliner Freund, bei dem sie damals auf der Party war, erstmals seit dem Mauerbau wieder nach Ost-Berlin. Sie feiern das Wiedersehen in einer Kneipe, und sie fragt ihn: „Kannst Du mich rüberholen?“ Der Freund treibt einen Fluchthelfer auf. Irgendwann bekommt sie ein Telegramm. „Mein Onkel Willi in Ost-Berlin ist krank. Kannst Du nach ihm sehen? Die Adresse ist. . .“ Und damit ist Teil zwei von Ingrid Vahles Geschichte in vollem Gange. Onkel Willi ist Mitte 50, ein Lkw-Fahrer, und er hat noch anderes im Sinn als nur Fluchthilfe. Sie verabreden sich bei einem Gebüsch auf einem Rastplatz an der Transit-Autobahn nach Helmstedt. Fluchtversuch 1: scheitert, weil Onkel Willi krank geworden ist. Fluchtversuch 2: scheitert, weil Onkel Willi zudringlich werden will und Ingrid Vahle irgendwo rauswirft, nachts.

Fluchtversuch 3: Ingrid kauert wieder im Gebüsch. Was soll sie machen? Onkel Willi hat das Geld ja schon. Er kommt, sie klettert über Kisten voller Äpfel auf die Ladefläche. Ihr Versteck hat die Fläche einer Obstkiste, auf ihrem Kopf hat sie ihre Reisetasche, darauf eine Obstkiste. Über die Reisetasche muss sie heute lachen, denn darin waren: Wäsche, ein Wecker und – jawohl – sechs Kuchengabeln, die sie geschenkt bekommen hatte. Ingrid Vahle weiß: Hunde würden sie aufspüren. Aber an diesem Abend gibt es keine Hunde. Nach drei Grenzkon­trollen ist sie in West-Berlin – drei Jahre, nachdem sie es freiwillig verlassen hatte.

Tägliche Verhöre

Es folgen vier Wochen tägliches Verhör durch Amerikaner, Franzosen, Briten. Die US-Behörden halten Ingrid Vahle erst für eine Spionin, dann wollen sie sie ihrerseits anwerben. Frontstadt West-Berlin! Aber sie wird lieber Werkstoffprüferin bei Philips. War also doch für was gut, die Ausbildung in der DDR.

Ingrid Vahle heiratet ihren treuen Freund – keiner aus ihrer Familie kann dabei sein. Ihr Bruder stirbt, mit 20! Sie kann nicht zur Beerdigung. Erst nach dem Berlin-Abkommen von 1971 sieht sie ihre Familie wieder, das nun allerdings ständig – und darum dreht sich Teil drei von Ingrid Vahles Geschichte. Alle vier bis sechs Wochen fährt sie mit einem Kofferraum voll West-Ware rüber: Kaffee, Cola, Salz, sogar Linsen; Klopapier, Topfschwämme und Fliesen. „Das wäre unsere erste Eigentumswohnung gewesen“, erzählt sie. Da schwingt Bitterkeit mit, aber nicht wegen des Geldes. Es war wegen der Bittbriefe – sie kamen von den Verwandten, die noch 1964 gesagt hatten: Schämt die sich nicht, abzuhauen in den goldenen Westen? Die Sache werde in der Familie totgeschwiegen bis heute. Und ja – das ist auch der Grund, warum Ingrid Vahle, die in Wahrheit anders heißt, nicht mit dem richtigen Namen in der Zeitung stehen will.

„Ich wollte immer raus aus Berlin“, erzählt sie, denn sie muss noch erklären, warum sie mit Mann und Kind nach Essen gezogen ist. Das Eingesperrtsein habe man gespürt in der Stadt. Zwar fahre sie oft nach Berlin, sagt sie. „Doch diese Angst, dass ich rüberfahre und nicht wieder rausgelassen werde, die werde ich nie wieder los.“ Sie wird sogar größer mit den Jahren, obwohl die DDR Geschichte ist. Und wie Ingrid Vahle von ihren Ängsten erzählt und von den Verletzungen, die diese widerliche Mauer ihrer Familie zugefügt hat: Da merkt der Wessi wieder, dass er sich das alles kaum vorstellen kann.