Mülheim.

Der Österreicher an sich gilt vielen als eher gemütlich, angepasst, obrigkeitsgläubig, konservativ und tendenziell rechtslastig. Intellektuelle, die sich meist eher links bis linksliberal äußern, haben es in dieser Atmosphäre traditionell schwer.

Im Ausland dagegen werden daheim umstrittene österreichische Bühnenautoren wie Thomas Bernhard, Peter Handke oder Elfriede Jelinek gefeiert, zumindest von der Kritik. Auch in Mülheim: Gestern zeichnete OB Dagmar Mühlenfeld die Wiener Literatur-Nobelpreisträgerin des Jahres 2004 aus. Nach 2002, 2004 und 2009 erhielt Jelinek zum vierten Mal den renommierten Dramatikerpreis, für ihr neuestes Bühnenwerk „Winterreise“.

100 Gäste in Stadthalle

Die „Winterreise“ in einer Inszenierung der Münchener Kammerspiele fand bei den Mülheimer Theatertagen bei Publikum und Kritik großen Anklang. Jelinek konnte an der Preisverleihung vor rund 100 Gästen in der Studiobühne der Stadthalle selbst nicht teilnehmen. Die 64-Jährige leidet an einer Angsterkrankung, die sie oft daran hindert, ihr Wohnhaus, geschweige denn ihre Heimatstadt zu verlassen.

Dafür schickte die Autorin der Jury und den Besuchern der Preisverleihung eine Videobotschaft, in der sie sich ausführlich und mit sehr persönlichen Worten für den Preis bedankte. Die Urkunde hatte ihr vor wenigen Tagen ein Vertreter der Stadt persönlich in Wien überreicht. Auch von dieser Zeremonie wurde ein Video während der Preisverleihung gezeigt.

In ihrer Winterreise greift Jelinek auf Motive des Liederzyklus „Winterreise“ ihres Landsmannes Franz Schubert zurück, zitiert sie an vielen Stellen ihres collagenhaften Schauspiels, erzählt aber eine ganz eigene Geschichte, die Geschichte eines Deserteurs. Schon die „Winterreise“ des Wiener Komponisten war nur vordergründig eine romantische Reise durch melancholische Landschaften. In Jelineks „Winterreise“ geht es erst recht nicht romantisch zu.

Stattdessen setzt sich ihr Bühnenwerk mit Grundmotiven aus Schuberts bekannter Liedersammlung auseinander: mit Heimatlosigkeit, Sehnsucht, Einsamkeit, Scheitern und Irregehen, der Spannung zwischen dem einzelnen Leben und der bürgerlichen Gesellschaft. Das Werk durchziehen – wie bei Jelinek gewohnt – auch wieder autobiografische Züge. Wie so oft hat Elfriede Jelinek auch sehr persönliche Erfahrungen in ihren Text eingearbeitet: Die komplizierte Beziehung zur Mutter kommt ebenso vor wie die Einweisung des Vaters in die Psychiatrie. Dabei interpretiert Jelinek die Motive aus dem Liederzyklus in ihrer Art mit aktuellen Bezügen.

Kritisch und unbequem

Jelinek bleibt sich auch in der „Winterreise“ treu, sie bleibt kritisch und unbequem, behält ihren Sinn fürs Grundsätzliche und Politische, betreibt weder Weltflucht noch private Rückschau. Das Stück und die Inszenierung der Münchner Kammerspiele in der Regie des Niederländers Johan Simons galt der Jury in diesem Jahr als besonders preiswürdig.

Warum genau, wurde bei der Preisverleihung zwar nicht explizit erläutert. Aber Jelineks Bühnenneuling wollen nicht weniger als zehn große deutschsprachige Bühnen in den kommenden Saison inszenieren. Insofern kann man bereits jetzt von einer neuen Erfolgsgeschichte Elfriede Jelineks sprechen. Ob ihre „Winterreise“ wirklich auch ein großer Wurf ist, wird sich dann zeigen...

Den Wettbewerb „Kinderstücke 2011“ gewann Autor Michael Müller mit „Über die Grenze ist es nur ein Schritt“, aufgeführt in der Hauptschule Bruchstraße. Müllers Stück steht in der Tradition des sozialkritischen, realitätsnahen Kinder- und Jugendtheaters. Ein Junge aus Ghana flüchtet sich zur Klasse in den Bus – seine Mutter wurde zuvor festgenommen, weil sie mit ihren Kindern illegal in Deutschland lebt.

Den Publikumspreis erhielten die Berliner Autoren Nurkan Erpulat und Jens Hillje für „Verrücktes Blut“. In dem turbulenten Stück versucht eine Lehrerin, ihren disziplinlosen Schülern mit Zuwanderungsgeschichte Friedrich Schiller und seine idealistischen Vorstellungen vom klassischen deutschen Theater nahezubringen. Da fällt ihr im Unterricht bei einem Gerangel eine Pistole in die Hände...