Mülheim/Oberhausen. Wenn man von Jugendgewalt hört, wird oft die Forderung laut, mehr Zivilcourage zu zeigen. Der Vater von Christian H. kann davon nur abraten. Sein Sohn wurde Ende 2009 an der Mülheimer Sandstraße brutal verprügelt - weil er helfen wollte.

Erst jüngst erschütterte die Gewalttat eines 18-jährigen Hamburger Gymnasiasten das Land. Der Schüler aus gutem Haus hatte einen 29 Jahre alten Mann mit Tritten gegen dessen Schädel brutal attackiert. Immer öfter schlagen Jugendliche zu, immer lauter wird die Forderung, Zeugen solch zerstörerischer Wutattacken sollten eingreifen, nicht wegsehen. Christian H. (25) hat hingesehen, hat versucht, seinem Freund zu helfen.

Das Gefühl, der Gelackmeierte zu sein

Was ihm das brachte, erzählt sein Vater Thomas Dörr. Der Facharzt für Innere Medizin listet auf: „einen mehrfachen komplizierten Kieferbruch, ein Schädel-Hirntrauma, zahlreiche Prellungen, Operationen, drei Wochen im Krankenhaus, zwei Monate nur Suppen essen, ein verlorenes Semester. Aber, was beinahe schlimmer ist als alles andere, ist dieses Gefühl, „der Gelackmeierte zu sein, das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren zu haben. Denn die mutmaßlichen Schläger wurden zwar festgenommen, jedoch vor Gericht freigesprochen.

Dem Verfahren zu Beginn dieses Jahres waren folgende Ereignisse vorausgegangen: In der Nacht vom 24. auf den 25. November 2009 feierte der Oberhausener Christian H., Gruppenleiter bei den Pfadfindern, zusammen mit anderen Gruppenleitern und Bekannten in der Diskothek „Ballermann“ an der Sandstraße in Mülheim. Weil es später an der Garderobe zu Verzögerungen kam, verließen die jungen Leute die Disko einzeln in kurzer Reihenfolge. Als Christian auf die Straße getreten sei, habe er dort gesehen, wie zwei oder drei Personen auf seinem Freund knieten und diesen mit Schlägen traktierten, erzählt Thomas Dörr. Sein Sohn sei dem Freund zur Hilfe geeilt und so selbst zum Opfer geworden.

Gericht fragte, ob sich das Opfer, trotz Amnesie erinnern könne

Christian H. hatte kurz nach den Vorfällen in einem Gespräch mit der WAZ erklärt, er sei plötzlich derjenige gewesen, der am Boden lag. Dann habe bei ihm die Erinnerung ausgesetzt. „Ich weiß nicht mal mehr, wie das hier passierte“, sagte er im Januar 2010 und zeigte dabei auf seinen gebrochenen Kiefer. Als seine Erinnerung wieder einsetzte, habe er nicht mehr am Boden gelegen, gestanden, blutüberströmt, sei von Polizeibeamten zu einem Alkoholtest aufgefordert worden, habe pusten müssen.

Was Thomas Dörr neben der Brutalität des Geschehens damals erschütterte: „Dass die Jugendlichen schon am nächsten Morgen die Wahrscheinlichkeit, dass jemand für diesen Vorfall belangt werden würde, als sehr gering einschätzten.“ Sie sollten recht behalten.

Kein Schutz für Opfer

Was den Vater außerdem entsetzte: „Mein Sohn ist beinahe zu Tode getreten worden, und dann wird er trotz der diagnostizierten Amnesie vor Gericht gefragt, ob er sich erinnern könne, ob er auf eher glattem Asphalt oder Kopfsteinpflaster aufgewacht ist.“

Was blieb: Frustration, Ärger, das Bewusstsein, „es hat nichts gebracht sich zu engagieren, mutmaßliche Täter werden geschützt, während das Opfer in den Schmutz gezogen, gar noch der Eindruck erweckt wird, die sind selber schuld“, sagt Dörr. Christian H., der zur Zivilcourage erzogen worden sei, würde sich nun wohl zwei Mal überlegen, ob er noch mal eingreift. „Wenn ich in jungen Jahren als Notarzt zu Schlägereien gerufen wurde und dort viele Gaffer herumstanden, habe ich mich gefragt, warum die nicht geholfen haben“, sagt Dörr. Jetzt verstünde er dies besser.