Mülheim. Eskalation in Nahost, Antisemitismus in Deutschland: Was sagt Jacques Marx (87), einst Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde vor Ort, zu der Krise?

Jacques Marx, 1936 in Paris geboren, war ein kleiner Junge, als die Nazis in Frankreich die Macht übernahmen. Gemeinsam mit Vater, Mutter und Bruder versteckte er sich über Monate im Wald, um Hitlers Schergen zu entkommen. Zwei Tanten wurden in Auschwitz ermordet. Als endlich Frieden war, beendete er die Schule, studierte Pharmazie in Straßburg und Freiburg. 1965 kam Marx nach Mülheim. Er war knapp 40 Jahre Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde. Während des Studiums, in langen Gesprächen mit einem französischen Militärrabbiner, war sein Interesse fürs Judentum geweckt worden. 2020 wurde Marx Ehrenbürger der Stadt Mülheim. Er habe in seinem Leben „viel Glück“ gehabt, sagt er. Nun allerdings, durch die Eskalation im Nahen Osten und den Anstieg antisemitischer Vorfälle in Deutschland, führt sein Weg in gewisser Weise zurück in die traumatischen Kindheitsjahre.

Herr Marx, wie geht es Ihnen aktuell mit den Geschehnissen in Israel und Gaza und den Auswirkungen auch auf unser Land?

Es ist vor allem eins, was mir auffällt: Plötzlich redet hier wieder jeder über Judenverfolgung und Ausgrenzung. Latent gab es das schon länger, doch es war gedämpfter, weiter weg. Jetzt ist es ganz nah. Wir sind wieder in der Öffentlichkeit, werden dargestellt. Und je häufiger man das Wort Antisemitismus hört, desto schlimmer wird es. Man sieht mich wieder als Juden an. Dabei bin ich ein normaler Mülheimer, ein Mensch und Bürger wie jeder andere, und nicht in erster Linie ein Jude. Wenn Politiker über die Gefahren durch Antisemitismus reden, frage ich mich: Ist das nur dahergesagt? Oder meinen die das ernst? Oft fühlt es sich für mich nicht echt an.

Man liest, wie Sie selbst sagen, viel über Judenfeindlichkeit, hört von Attacken und Anschlägen. Wie sicher fühlen Sie sich da noch?

An meinem persönlichen Lebensglück rüttelt das nicht. Ich empfinde keine Gefahr. Und ich habe in meinen bald 60 Jahren in Mülheim auch noch nie eine antisemitische Aktion gegen mich erlebt. Doch ich kenne Menschen, die jetzt Angst haben. Auch meine Frau kann sich das im Fernsehen nicht länger anschauen. Sie empfindet die Situation als bedrohlich, fürchtet sich.

Zwischen 7. und 15. Dezember wurde das Lichterfest Chanukka gefeiert - auch bei Familie Marx, wie der Kerzenleuchter auf dem Tisch verrät.
Zwischen 7. und 15. Dezember wurde das Lichterfest Chanukka gefeiert - auch bei Familie Marx, wie der Kerzenleuchter auf dem Tisch verrät. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas findet kein Ende, die Zweistaatenlösung wird unwahrscheinlicher. Viele Menschen fragen sich: Wie kann die Region bloß dauerhaft befriedet werden? Wie schauen Sie auf die Lage in Nahost?

Dass Israel sich nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober zur Wehr gesetzt hat, war ganz normal. Doch es ist schlimm, dass durch diesen Krieg so viele Unschuldige in Gaza und Israel sterben müssen. Es ist schwierig, vorherzusagen, was noch passieren wird. Da ist schon Angst; niemand möchte einen weiteren Weltkrieg. Leider sind wir als Juden in der muslimischen Welt verhasst. Dass Israel gegründet wurde, war richtig. Das gab und gibt uns Sicherheit. Doch mit der Politik des Staates Israel habe ich wenig zu tun, ich schaue aus meinem Glauben heraus auf die Situation. Aus dieser Richtung fällt die Bewertung viel menschlicher aus, als wenn ich politisch denken würde.

Wie meinen Sie das? Können Sie das erklären?

So ist es eher eine moralische Geschichte. Ich persönlich bin nicht im Krieg. Ganz im Gegenteil: Ich habe zwei gute Freunde, der eine ist muslimisch, der andere griechisch-orthodox. Wir unterhalten uns über alles Mögliche, durchaus kontrovers. Aber Streit gibt es nie. Es ist erschreckend, dass die Feindschaft im Nahen Osten fast schon eine natürliche Sache ist. Der Hass wird schon Kindern eingebläut. In Jordanien habe ich mal etwas erlebt, was mich betroffen gemacht hat. Ich war als Tourist dort, und einheimische Kinder kamen auf uns zu. Ich wollte ihnen etwas Gutes tun, hatte aber nur israelisches Geld bei mir. Sie haben es genommen, darauf gespuckt und weggeschmissen.

Haben Sie Freunde oder Verwandte in Israel - was hören Sie von denen?

Die Frau meines verstorbenen Bruders, die die Nazizeit nur überlebt hat, weil sie sich in einem französischen Kloster versteckt hat, lebt in Tel Aviv. Sie ist 91 Jahre alt, und wenn Alarm ist, muss sie allein in den Keller. Wir telefonieren regelmäßig. Auch ihre Tochter mit den Kindern lebt dort, sie hat das Land zeitweise aber verlassen und in Frankreich Schutz gesucht.

Kurz vor Weihnachten sind viele Menschen besonders sensibel für Unrecht und Unfrieden. Haben Sie für diese Mitbürger eine Botschaft, die Hoffnung macht?

Ich war und bin ein Sonnenkind und nach wie vor ein Optimist. Ich bin der Ansicht, dass sich auch in Israel alles zum Guten entwickeln wird. Wie lang das dauert, und ob ich es noch erlebe, vermag ich allerdings nicht zu sagen. Zu Weihnachten fällt mir noch eine nette Geschichte ein: Jahr für Jahr bekomme ich Grußkarten zum christlichen Fest. Das ist schön. Doch als Jude lässt mich das durchaus auch schmunzeln.

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