Mülheim. Mülheim drohen rund 1,4 Millionen Euro des Landes NRW für Arme durch die Lappen zu gehen. Warum die Hilfe bei den Bedürftigen nicht ankommt.

1,8 Millionen Euro Landesfördermittel liegen derzeit auf dem Konto der Stadt, um damit die in Mülheim zementierte Armut abzubauen. Doch schon Anfang Oktober wird der Großteil des Geldsegens wieder zurück ans Land fließen. Zumindest nach jetzigem Stand. Denn nur gerade einmal ein Viertel – konkret 460.000 Euro – hat die Stadt bislang verplanen können. Die Gründe sind überraschend.

Die Mittel aus dem „Stärkungspakt NRW – gemeinsam gegen Armut“ sollten unbürokratisch und möglichst direkt Bürgerinnen und Bürgern zukommen, die krisenbedingt vor Überschuldung, Energiesperren und Wohnungsverlusten stehen. 79 Euro für jeden der 23.332 Mindestsicherungsbeziehenden – so lautet der Schlüssel für die Zuweisung an Mülheim aus dem Gesamtpaket von 150 Millionen Euro landesweit.

Warum Hilfe in Mülheim nicht ankommt: unsichere Rechtslage

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Die Summe ist nicht gering, der Bedarf in Mülheim bekanntermaßen nicht klein. Der Haken dabei: Nur die Einrichtungen der sozialen Infrastruktur, städtische oder freie, können die Mittel beantragen, nicht etwa die Armutsbetroffenen selbst. Doch die Träger blieben bei der Beantragung bisher mehr als zurückhaltend.

Einen Grund dafür benennt Monika Otto vom Diakoniewerk Arbeit & Kultur, das Einrichtungen wie das Sozialkaufhaus und die Mülheimer Tafel verwaltet. Hier nutzte man diesen Geldsegen nicht, weil Unsicherheit bestand, ob man ihn am Ende nicht wieder zurückzahlen müsste: „Wir werden als Träger mit Stellen für Langzeitarbeitarbeitslose bereits gefördert“, begründet Otto.

Auch das Sozialkaufhaus habe geförderte Arbeitskräfte und erhalte Unterstützung für Miete und Energiekosten. Schnell könnte man damit in eine Doppelfinanzierung geraten. Das aber schließt die Förderrichtlinie natürlich aus. So entschied sich das Diakoniewerk dagegen, auf die Mittel zurückzugreifen.

Grund 2: Hoher bürokratischer Aufwand für Mülheimer Träger

Anders bei der Mülheimer Awo, wo man „alles abgerufen hat, was wir abbilden konnten“, sagt Geschäftsführerin Michaela Rosenbaum. Dazu zählen etwa die gestiegenen Energiekosten. Mit gut 50.000 Euro zusätzlich drücken sie auf die Kasse der Awo.

Und auch hier war der bürokratische Aufwand eben nicht so gering, wie landesseitig versprochen: Keine Pauschale, sondern jeder Bereich der Awo musste die neue Strom- und Gasrechnung mit alter vergleichen.

Doch den möglichen Rahmen für bedürftige Mülheimerinnen und Mülheimer schöpfte man auch hier nicht aus. Denn zum einen habe es keine Transparenz gegeben, in welcher Höhe denn ein einzelner Träger Mittel beantragen könne. Zum anderen hatten selbst erfahrene Träger erhebliche Unsicherheiten bei der Frage, was denn genau finanzierbar sei. „Es gab zwischendrin immer wieder Nachbesserungen des Landes“, bemängelt Rosenbaum. Die letzte mit einem Umfang von acht Seiten am 14. Juni.

Grund 3: Es gelten unklare Fördermaßnahmen

Darin enthalten nicht nur Unterstützung von sozialer Infrastruktur, sondern auch eine Liste von praktischen Einzelfallhilfen. Möglich ist es für soziale Einrichtungen, nun auch Anträge für Familien ohne Anspruch auf Sozialleistungen zu stellen. Energieschluckende Kühlschränke, Herde und Waschmaschinen austauschen, Zuschüsse für Freizeitgebote und für den ÖPNV erhalten, Energieschulden übernehmen – sogar Balkonsolaranlagen sind förderfähig.

„Hätten wir gerne gemacht, wenn wir das alles rechtzeitig gewusst hätten“, sagt Rosenbaum. Denn schließlich weiß ein sozialer Träger wohl am besten, in welchen Familien der Schuh drückt. Rund 180 Fälle, schätzt sie, wären es allein bei der Awo. Was sie davon abhielt? Bis zum 30. Juni sollen die Kommunen bereits berichten, wie die Mittel abgerufen werden sollen. Innerhalb von nur zwei Wochen seien die Anträge nicht zu stellen gewesen, kritisiert Rosenbaum.

Mülheims Sozialdezernentin kritisiert Regelwerk voller Fallstricke

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Nicht wirklich zufrieden mit dem Stärkungspakt der schwarz-grünen Landesregierung zeigt sich auch Mülheims Sozialdezernentin Daniela Grobe (Die Grünen). Sie hatte zwar im Februar zugesagt, dass es keine langwierigen Entscheidungsprozesse und eine zeitnahe Umsetzung geben werde. „Da konnte ich aber noch nicht wissen, vor welche Schwierigkeiten uns das Land bei der Umsetzung stellen würde“, sagt sie heute: „Wie andere Kommunen mussten auch wir erkennen, dass das scheinbar so einfache Regelwerk im Detail voller Fallstricke steckt.“

So sei eine wesentliche Hürde, dass „die scheinbare Offenheit des Angebotes an vielen Stellen auf rechtliche Regularien trifft“, gibt Grobe ein Beispiel: Einerseits will man Härtefällen unbürokratisch helfen, andererseits sollen aber laut Sozialgesetzgebung zusätzliche Einnahmen auf die Leistungen angerechnet werden.

Sozialdezernentin Daniela Grobe kritisiert den Stärkungspakt NRW gegen Armut: Das Land stelle sich als Wohltäter dar, die Kommunen trügen das Risiko für rechtskonforme Lösungen.
Sozialdezernentin Daniela Grobe kritisiert den Stärkungspakt NRW gegen Armut: Das Land stelle sich als Wohltäter dar, die Kommunen trügen das Risiko für rechtskonforme Lösungen. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Die Sozialdezernentin geht mit dem Landes-Stärkungspakt hart ins Gericht: Selbst persönliche Gespräche mit dem Sozialministerium des Landes hätten manche Konflikte mit dem Finanzministerium nicht auflösen können. „.Es bleibt der Eindruck, dass sich das Land als Wohltäter der Betroffenen darstellt, gleichzeitig den Kommunen die undankbare Aufgabe überlässt, rechtskonforme Lösungen zu entwickeln, für die sie das volle Risiko tragen.“

Was geschieht mit den verbleibenden 1,4 Millionen für Mülheims Bedürftige?

Was geschieht nun mit den übrigen Mitteln von rund 1,4 Millionen Euro, die noch auf Mülheims Konto schlummern und Armutsbedürftigen helfen sollen? Der Sozialdezernentin zufolge sollen – trotz Berichtsfrist für den 30. Juni – auch im Laufe des Jahres noch Anträge gestellt werden können. Allerdings müsse die Stadt nicht verplante Gelder ab Oktober an das Land zurückgeben.

Das bestätigt das Sozialministerium auf Anfrage der Redaktion. „Die Kommunen können bis zum Jahresende über die Mittel verfügen, Bedarfsanmeldungen können auch nach den Stichtagen (30. Juni und 30. September) an die Kommunen gerichtet werden“, heißt es. Mittel, die bis zum 30. September geplant, aber noch nicht ausgegeben worden seien, müsse Mülheim auch nicht zurücküberweisen.

Bemerkenswert jedoch ist, dass offenbar die allermeisten Kommunen schnell und umfassend von den Landesmitteln gegen Armut Gebrauch machten: Bereits Mitte Februar sollen bereits über 90 von 150 Millionen Euro an 219 der 427 Kommunen ausgezahlt worden sein. „Aktuell haben 419 Kommunen über 147 Millionen Euro erhalten, nur acht Kommunen haben bislang die bereitgestellten Mittel noch nicht abgerufen“, meldet das Ministerium.

Unmut über mangelnde Infos in Mülheimer Ausschüssen

Hat Mülheim bislang genügend Anstrengungen unternommen, um die Mittel abzurufen? Das Land hebt überraschend Duisburg hervor: Denn noch im Mai habe die Nachbarstadt sogar im Landtag die Probleme bei der Verausgabung der Mittel kritisiert. Inzwischen aber – so ein Sprecher des Ministeriums – habe Duisburg nach Beratungsgesprächen mit dem Ministerium deutlich gemacht, dass sie auf einem guten Wege seien, die Mittel auszugeben und nicht zurückzuzahlen.

Im hiesigen politischen Raum gibt es bereits Unmut, weil die Probleme in den Mülheimer Ausschüssen bisher nicht thematisiert wurden. Sozialdezernentin Grobe begründet dies mit den ständig geänderten Regularien: „Da das Land nach der einsetzenden Kritik aus dem Kreise der Kommunen die Verteilungsrichtlinien immer wieder neu gefasst hat, konnte bisher in den Ausschüssen keine abschließenden Informationen gegeben werden.“

Soziales Mülheim – das sind die Themen