Mülheim. Arme und Reiche leben in Mülheim immer seltener Tür an Tür. Mit schweren Folgen für die Stadt. Das belegen Studien. So ließe es sich ändern.

Wer in Styrum oder dem westlichen Dümpten lebt, zählt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu den ärmeren Menschen in Mülheim – rund 27 Prozent leben hier von Nettoeinkommen um 13.600 Euro –, wer in Menden, Holthausen oder Saarn wohnt, zu den wohlhabenderen. Für Mülheimer ist das kaum eine Neuigkeit. Leider. Denn wie sehr sich das tendenzielle Nord-Süd-Gefälle in Mülheim über Jahrzehnte zementiert hat, zeigt eine neue Auswertung der Sozialforschenden Marcel Helbig und Stefanie Jähnen auf „Zeit Online“ zu 80 deutschen Großstädten: das starre Muster sozialer Ungleichheit.

Denn dieses Muster lässt sich in Mülheim fast mit dem Lineal von Ost nach West, von Speldorf nach Heißen ziehen, und sogar bis in die Stadtteile hinein: Rote, orange und gelbe Punkte – das sind solche Haushalte mit geringem Einkommen – ballen sich von hier bis in den Norden. Es sind monatliche Nettohaushaltseinkommen in den Größenordnungen bis 1000 Euro, 1500 Euro sowie bis 2500 Euro.

Arme und Reiche leben in Mülheim selten Tür an Tür

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Grüne bis tiefgrüne Punkte zeigen dagegen die vermögendere Seite Mülheims: Hier stehen Nettoeinkommen von 3500, 5000 Euro und mehr zur Verfügung. Und sie knubbeln sich hauptsächlich im Süden. Arme und Reiche leben auch in Mülheim selten Tür an Tür.

Jahresbruttoeinkommen pro Familienmitglied
Jahresbruttoeinkommen pro Familienmitglied © funkegrafik nrw | Anda Sinn

Anders als etwa in Essen ist die Schnittkante sozialer Ungleichheit zwar nicht an der Autobahn A40 zu finden. Doch ähnlich wie in der Nachbarstadt führt sie mitten durch die Stadt: Entlang der Duisburger Straße sowie auf der östlichen Ruhrseite an Dickswall und Gracht teilt sich die soziale „Farblehre“ von tendenziell warmen und kalten Tönen mit bestürzender Schärfe.

Armut beginnt in Mülheim bei 1074 Euro Netto-Einkommen im Monat

Wer als arm oder armutsgefährdet gilt, hat die Stadt Mülheim 2019 in einem Bericht ermittelt: jeder Mensch, der weniger als 60 Prozent des mittleren Netto-Einkommens (bundesweit gemessen) zur Verfügung hat. Man spricht von „relativer Armut“. Die Grenze lag 2019 bei 1074 Euro netto. Leben mehr Menschen in einem Haushalt, wird die Grenze pro Erwachsenen jeweils nur um die Hälfte (537 Euro) erhöht, pro Kind um 322,50 Euro. Arm ist ein Paar mit Kind folglich dann, wenn es netto weniger als 1933,20 Euro verfügbar hat.

Die Trennung im städtischen Raum von Arm und Reich nehme zu und werde durch bestimmte Effekte vorangetrieben, haben Marcel Helbig und Stefanie Jähnen vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ermittelt: So führen hohe Mieten und Eigentumskosten sowie wenig Wohnungsleerstand dazu, dass sich reich zu reich gesellt. Viel Leerstand hingegen führe arm zu arm, denn hierhin zögen diejenigen, die sich die Abgrenzung nicht leisten könnten. Mit – aus Sicht der Sozialforscher – weitreichenden Folgen auf Gesundheit, Bildung und Berufschancen besonders für Kinder.

Die Folgen der Armut: mehr Lärm, weniger Bildungszugang, schlechte Gesundheit

Die scharfe Trennung von Armen und Reichen bestätigt auch die Mülheimer Analyse: „Ist in den südlichen Stadtgebieten Mülheims nur jeder fünfte bis siebte Haushalt – bis zu maximal 20 % – von relativer Armut bzw. Armutsnähe betroffen, so betrifft dies in den nördlicheren Stadtvierteln – in Eppinghofen, im Bereich der Innenstadt, in Styrum-Südost, in Bereichen Dümptens – mehr als jeden zweiten Haushalt (50 bis 70 Prozent) mit seinen Familienmitgliedern.

Und auch die Folgen hat die Stadt erkannt: „Ökonomische Ungleichheit geht häufig mit sozialräumlichen Ungleichheiten einher. Dies drückt sich häufig in den Wohnverhältnissen, den Umgebungsbedingungen des Wohnorts, der Umweltqualität, der Versorgungsqualität und auch den Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten aus“, heißt es im Bericht.

Kinder armer Familien sind besonders betroffen

So habe zum Beispiel in den Bezirken Eppinghofens, der östlichen Stadtmitte, im nördlichen Broich, in der Mitte von Speldorf, im östlichen Styrum sowie im Westen Dümptens jedes Kind im Alter von unter zehn Jahren lediglich maximal ein Viertel der durchschnittlichen Fläche aller Kinder unter zehn zur Verfügung.

Und auch gesundheitlich sind Wohnviertel einkommensärmerer Menschen besonders betroffen: Hohe Belastungen durch Straßenlärm sind insbesondere in der Stadtmitte, im Bereich der Aktienstraße, aber auch in Styrum und Dümpten zu finden. Im Mülheimer Norden liegen überdurchschnittliche Lärmbelästigungen – häufig über 60 Dezibel – vor.

Mülheimer Soziologe beobachtet negative Stadtteilentwicklung seit wenigstens 2011

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Für den Mülheimer Soziologen und emeritierten Soziologieprofessor Peter Höhmann ist die deutliche Kluft zwischen armen und reichen Stadtteilen längst kein neues Phänomen: Seine neuste vergleichende Analyse von Mülheim, Darmstadt und Regensburg zeigt jedoch, dass die soziale Ungleichheit in Mülheim insbesondere seit 2011 markant zugenommen hat, während dies in den Vergleichsstädten nicht passierte. Bereits damals variierten etwa die Anteile in den Mülheimer Stadtteilen von Menschen, die Leistungen nach SGB II erhalten, zwischen 6,5 und 21,3 Prozent.

Dass sich diese Ungleichheit daraufhin weiter verfestigte, verdeutliche aus Höhmanns Sicht der Zuwachs an Leistungsbeziehern in den Stadtteilen. In solchen, in denen zuvor schon viele von ihnen wohnten, stieg ihr Anteil um 22,6 Prozent. Demgegenüber stieg ihr Anteil in den Vierteln, in denen unterdurchschnittlich wenig Menschen mit SGB-II-Bezug lebten, nur um 6,4 Prozent.

Fazit: Kritik an „passiver Sanierung“

Doch welche Maßnahmen lassen sich aus den weitestgehend übereinstimmenden Analysen ziehen? Der Mülheimer Armutsbericht von 2019 macht dazu keine Angaben. Höhmann indes sieht derzeit in betroffenen Städten wie Mülheim oft Tendenzen zur „passiven Sanierung“, also den Versuch, die Probleme des Sanierungsgebietes über eine Abwanderung der Wohnbevölkerung in „bessere“ Stadtteile zu lösen.

In den noch funktionierenden Stadtteilen würden daher große Wohnprojekte von Politik und Verwaltung aktiv verfolgt werden: auf dem Lindgens-Gelände in Saarn, in der Parkstadt in Speldorf oder in Selbeck (Rumbaum, Fliedner). Doch damit entstünden in den „guten Stadtteilen“ auch neue Probleme: zunehmende Bevölkerungsdichte, unpassende Bebauung, mehr Verkehr und Lärm, überbelastete Kitas, Schulen, Nahversorgung.

„Man müsste stattdessen eine Strategie für die vermeintlich schlechten Stadtteile entwickeln“, sagt Höhmann und sieht maßgeblich Chancen entweder durch Verbesserung der Infrastruktur in diesen Vierteln oder aber durch mehr Gewerbe und Arbeitsplätze.

Ein Beispiel für die „passive“ Sanierungsstrategie der Stadt? Neubauten in funktionierenden Vierteln wie auf dem Rumbaum-Gelände in Selbeck statt Verbesserung der „verarmten“ Stadtteile sollen zu Abwanderung führen.
Ein Beispiel für die „passive“ Sanierungsstrategie der Stadt? Neubauten in funktionierenden Vierteln wie auf dem Rumbaum-Gelände in Selbeck statt Verbesserung der „verarmten“ Stadtteile sollen zu Abwanderung führen. © www.blossey.eu / FUNKE Foto Services | Hans Blossey

Mülheim braucht eine Strategie gegen arme Stadtteile

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Das eine stärke Mülheim als Wohnstadt, „dafür muss man etwa die Pendlerverkehre verbessern, den ÖPNV in die Nachbarstädte gezielt ausbauen“. Zum Beispiel nach Essen oder Düsseldorf – zur Landeshauptstadt seien die Verbindungen derzeit ungewöhnlich schlecht, kritisiert Höhmann. In Selbeck etwa kämpft man gerade um eine gute ÖPNV-Anbindung nach Düsseldorf oder zum S-Bahnhof Hösel, damit der durch die neuen und geplanten Wohnbaugebiete zukünftig zu erwartende Auto-Verkehr nicht das Viertel sprengt.

Auch die andere Strategie – mehr Gewerbe – könne Menschen von außen nach Mülheim holen, bedürfe dann aber einer Stärkung innerstädtischer Verbindungen. Beide Strategien setzten aber darauf, dass diese Viertel für die arbeitende Bevölkerung attraktiv würden und umgekehrt mit dem Zuzug arbeitender Bevölkerung sich die Viertel weiter wandelten.

Solche Beispiele kennt Höhmann aus Darmstadt und Regensburg, die er im Vergleich mit Mülheim analysiert hat. Sein Fazit: „Man kann die Änderungen in den Stadtteilen nur über die Ökonomie bewirken, die Politik muss dafür aber Konzepte entwickeln und beschließen.“

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