Mülheim. Die Künstlergruppe Club Real plant den großen Scherenschnitt über Mülheims Schloßbrücke. Hört sich lustig an, hat aber einen ernsten Hintergrund.

Über der Mülheimer Schloßbrücke schwebt eine 120 Meter hohe Riesen-Schere: Eine ihrer Spitzen ist in die Ruhr gerammt, die andere hängt bedrohlich über der Brücke, als wolle sie diese in zwei Hälften schneiden. Sie soll ein Mahnmal der immer größer werdenden Lücke zwischen Arm und Reich in der Stadt darstellen. Im Rahmen des „Impulse Festivals“ am Ringlokschuppen wollen die Künstler der Gruppe Club Real die Stahlskulptur in der Ruhr installieren.

Zumindest in der Theorie. In der Praxis wird die 120 Meter große Riesen-Schere wohl kaum über der Schloßbrücke aufgebaut werden. Doch ihr Ziel haben die Künstler mit dem „Scherenschnitt“ bereits erreicht: die maximale Aufmerksamkeit auf das Thema soziale Ungleichheit zu lenken. „Wir haben lange in Mülheim recherchiert und uns mit Menschen unterhalten“, berichtet Marianne Ramsay-Sonneck von der Künstlergruppe Club Real aus Berlin und Wien. „Dabei haben wir festgestellt, dass es hier eine große Spaltung zwischen Arm und Reich gibt.“ Grob gesagt: „Die Reichen wohnen im Wald, die Armen hinterm Bahnhof, dazwischen fließt die Ruhr.“

Künstler: Milliardäre wohnen abgeschottet im Wald

Rollenspiele und Begegnungen

Die Gruppe Club Real arbeitet seit dem Jahr 2000 an ortsspezifischen Projekten, die die lokale Bevölkerung zur Teilhabe einladen. Mal sind es Installationen, mal Eins-zu-Eins-Begegnungen, mal politische Rollenspiele, mal partizipative Stadtentwicklungsprojekte. Immer aber gehe es darum, gemeinsam über alternative Realitätsentwürfe nachzudenken.

Das Impulse Festival läuft vom 2. bis 13. Juni und findet in Köln, Düsseldorf, Mülheim und online statt. Weitere Infos zum Programm gibt es unter impulsefestival.de.

Jedes dritte Kind in Mülheim ist von Armut betroffen, demgegenüber stehen 60 bis 70 Einkommensmillionäre – Tendenz steigend“, erklärt Mathias Lenz von Club Real. Zudem habe Mülheim eine der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung in NRW, zugleich wohnten hier aber mehrere Milliardäre. „Diese sieht man jedoch nicht, da sie abgeschottet in ihren Villen leben“, so Marianne Ramsay-Sonneck. Die Schere jedoch ist nicht zu übersehen. Sie soll die Ungleichheit bildlich darstellen, als Denkmal im öffentlichen Raum prangen. Und gleichzeitig Fragen stellen: Wie können wir die Schere wieder schließen? Wie die leere Mitte der Gesellschaft wieder füllen?

Auch Barbara Schmidt, Mülheimer Schauspielerin und Theaterpädagogin, ist im Rahmen des Scheren-Projekts in der Stadt unterwegs. Mit dem Verein „Eigentum verpflichtet“, ein eigenständiges Kunstprojekt, gefördert aus dem Fonds Soziokultur, will sie die Verhältnisse umkehren, als „Integrationsbeauftragte für Menschen mit Vermögenshintergrund“ in den nächsten Wochen mit Mülheimern ins Gespräch kommen und „Menschen mit Vermögen ein Integrationsangebot machen“.

Baustellen-Box soll Menschen über Projekt und Problematik informieren

Mathias Lenz, Anna Jungfer, Alexander Schulte (Ringlokschuppen) und Marianne Remsay-Sonneck arbeiten am Kunstprojekt „Die große Schere“.
Mathias Lenz, Anna Jungfer, Alexander Schulte (Ringlokschuppen) und Marianne Remsay-Sonneck arbeiten am Kunstprojekt „Die große Schere“. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

Am Ruhrufer auf Innenstadtseite, zwischen Wasserbahnhof und Schloßbrücke, hat die Gruppe bereits eine gelbe Baustellen-Box aufgebaut, in der das Bild der Schere über der Schloßbrücke zu sehen ist. Flyer, ein Film und Audio-Hinweise sollen die Menschen über das Projekt informieren. „Nachts leuchtet die Box, so dass sie auch von der Brücke aus zu sehen ist“, sagt Mathias Lenz.

Das Scheren-Projekt ist ein Programmpunkt des Impulse Theater Festivals, das jedes Jahr in Mülheim am Ringlokschuppen sowie in Düsseldorf und Köln stattfindet und als das wichtigste Treffen der Freien Theaterszene im deutschsprachigen Raum gilt. Die drei Programmsäulen „Showcase, Akademie und Stadtprojekt“ rotieren dabei durch die Städte.

„Wir haben uns die Gruppe ausgesucht, weil sie mit Menschen aus der Stadt arbeitet. Als Künstler, die von außen kommen, blicken sie zudem anders auf die Stadt“, sagt Ringlokschuppen-Geschäftsführer Matthias Frense. Vorgaben gab es bei der künstlerischen Themenfindung nicht. Das sei ein Merkmal der freien Szene: „dass der Auftrag frei ist und die künstlerischen Perspektiven offen sind.“ Erst über die Recherchearbeit des Kollektivs habe sich das Thema „Klassengesellschaft“ herauskristallisiert.

Eigentlich wollten Club Real und der Ringlokschuppen das Stadtprojekt bereits im vergangenen Jahr in Mülheim realisieren, doch coronabedingt wurde es auf 2021 verschoben. Nun müssen auch dieses Mal viele Programmpunkte digital stattfinden. Bis zum 13. Juni wird das Festival laufen, für den Abschlusstag ist eine große Enthüllung geplant. Wie genau die aussehen wird, steht allerdings noch nicht fest. „Es wird noch einige Überraschungen geben“, versprechen die Künstler.