Mülheim. Welche Bedeutung der Flughafen Mülheim für Innenstadt und Artenvielfalt hat, zeigt eine Führung über das Gelände. Experten warnen vor Bebauung.
Sie ist mit 120 Meter über Normalnull nicht nur der höchste Punkt der Stadt, sondern wohl auch die größte zusammenhängende Grün- und Freifläche des westlichen Ruhrgebiets. Für Mülheim entscheidet sich hier, auf dem Areal des Flughafens, sogar das Klima unter anderem der Innenstadt, wenn Kaltluft über den Hügel zur Ruhr ,abhebt’. Freilich gilt das nur für seine heutige, unbebaute Form, sagt der Raumplaner Hans-Peter Winkelmann – auf Tour über ein Gelände, das im Hinblick auf seinen ökologischen Wert bislang wenig beachtet wurde.
Doch Fliegen und Naturschutz – ist das kein Gegensatz? Die Arbeitsgemeinschaft Flughafen und Ökologie (AGFÖ) meint: Nein. Das allerdings hat klare Bedingungen, die die vier Mitglieder Sabine Arzberger, Markus Kämpfer, Hans-Peter Winkelmann und Johannes Terkatz bei ihrer Führung über das 130 Hektar große Raadter Gelände am Samstagmorgen deutlich formulieren. Denn aktuell wird eine Randbebauung jener Kaltluftschneise am Flughafen in Politik und Verwaltung heiß diskutiert.
Klimaexperte warnt vor Bebauung der Kaltluftschneise mit Gewerbe oder Wohnungen
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Die Auswirkungen würde man wohl als Erstes im Rathaus spüren: „Wenn dieses eingezäunte und deshalb seit fast 100 Jahren größtenteils unberührte Gebiet ganz oder teilweise durch ein Wohnquartier oder einen Gewerbepark bebaut würde, ginge eine wichtige Kaltluftschneise für die Innenstadt verloren, in der es schon heute an heißen Sommertagen sieben Grad wärmer als am Flughafen ist“, erklärt Winkelmann, der sich beruflich seit mehr als 30 Jahren mit den Fragen der umweltverträglichen und klimaschützenden Stadt- und Raumplanung befasst und als Berater auch schon für die Vereinten Nationen und die Europäische Union gearbeitet hat.
In diesem weitgehend unberührten Zustand über fast ein Jahrhundert aber hat die Fläche wichtige Funktionen übernommen: Sie ist – wie Böden generell neben Wäldern und Meeren – ein wichtiger CO2-Speicher. „Hinzu kommt noch, dass die Grünflächen des Flughafengeländes Niederschläge wie ein Schwamm aufsaugen und das Regenwasser zeitverzögert ins Grundwasser abgeben“, so der Klimaexperte.
Hochwasserkatastrophe 2021: Ohne den Flughafen wäre die Innenstadt wohl abgesoffen
Wie wichtig dies bei den im Zuge des Klimawandels jetzt häufiger auftretenden Starkregenereignissen ist, macht er mit Blick auf das Sommerhochwasser im Juli 2021 deutlich. Täglich 90 Liter pro Quadratmeter fielen an drei Tagen vom 12. bis 14. Juli. Damals, so Winkelmann, habe die 130-Hektar große Flughafenfläche so viel Wasser aufgenommen und zeitversetzt versickern lassen, dass man damit 2,4 Millionen Badewannen hätte füllen können.
Für den Stadt- und Raumplaner steht fest: „Hätten wir im Juli 2021 die Grünflächen am Flughafen nicht gehabt, so dass das Regenwasser in den Rumbach und in die Ruhr abgeflossen wäre, wäre die Innenstadt abgesoffen.“ Mit Blick auf die flughafen-kritische Haltung der Grünen, erinnert Winkelmann auch daran, dass es ihr Bundestagsabgeordneter Dr. Wilhelm Knabe gewesen sei, der in den Jahren 1987 bis 1990 die erste Klimaschutz-Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages geleitet habe.
Unberührtes Gebiet sorgt für Artenvielfalt gefährdeter Pflanzen und Tiere
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Welche Bedeutung Flora und Fauna auf dem Gelände zukommt, zeigt Sabine Arzberger im naturgemäß feuchtesten Teil der Flughafenführung auf. Die Expertin aus dem Naturgarten-Verein in Mülheim hat hier ein wahres Biotop entdeckt: Nicht nur die berühmte Feldlerche vereitelte 2017 einen Auftritt des britischen Pop-Sängers Ed Sheeran. Auch ansonsten findet man auf den unbehandelten Mager-, Fett- und Niedermoorflächen des Flughafens Feldhasen, Milane, Falken, Bussarde, aber auch viele besondere Insekten, die mit bestimmten Pflanzen eine lebenswichtige Symbiose eingegangen sind.
Prominentes Beispiel: Der Natternkopf auf den Magerwiesen, der die inzwischen äußerst seltene Natternkopfmauerbiene versorgt. Außerdem wimmelten laut Arzberger auf fetten Feuchtwiesen etwa Kuckuckslichtnelken und im Grünland seien Wiesenkümmel und gewöhnliche Hundszunge zu finden, die sogar auf der Roten Liste der gefährdeten Pflanzen stünden.
Mülheimerin überrascht, wie gut Ökologie und Technik harmonieren können
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Besonders nützlich sei etwa, dass die Wiesen sehr selten gemäht würden, so dass etwa die Puppen von Insekten überleben können. „Jeder spricht vom Insektensterben, am Flughafen gibt es noch ein funktionierendes Ökosystems für den Erhalt der Artenvielfalt“, mahnt Arzberger. Notwendig sei daher ein Gutachten, das die hier lebenden Insekten erfasse.
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Für Hanni Beyer, die mit gut 14 Interessierten die zweistündige Führung besuchte, ist das aber schon erkenntnisreich gewesen: „Mich hat überrascht, dass Ökologie und Technik hier am Flughafen zusammenpassen, dass das Gelände mit seinen Grünflächen ökologisch, wie ein Schwamm funktioniert und vielen Tieren und Pflanzen einen Lebensraum bietet. Diese Führung wäre sicher für viele Menschen interessant, die das auch nicht wissen und besonders für Kinder und Jugendliche. Denn sie müssen wissen, in welche Welt sie hineinwachsen.“