Mülheim. Renaldo „Storo“ Braun ist Sinto, als Kind war er viel unterwegs. Wurzeln hat er in Mülheim geschlagen, fühlt sich wohl. Allerdings nicht immer.
Es ist eine seiner deutlichsten Kindheitserinnerungen: Eine warme Sommernacht, „irgendwo in Bayern“. Gemeinsam mit seinen Cousins steht der etwa achtjährige Storo barfuß in einem Bach und fängt Fische – mit der bloßen Hand. Im Hintergrund, einen Steinwurf entfernt, brennt auf einer Wiese ein Lagerfeuer. Rundherum scharen sich etliche Menschen: kleine, große, junge, alte. Es wird gesungen, musiziert, gelacht. „Das war eine gute Zeit, damals.“
Damals liegt viele Jahrzehnte zurück. Jeden Sommer in den Ferien, „manchmal auch im Herbst“, packen Storos Eltern die sieben Kinder, Sack und Pack in einen Wohnwagen und fahren los. Quer durchs Land. „Wir haben dann nach und nach weitere Familienmitglieder getroffen und eine große Kolonne gebildet“, erinnert sich der heute 60-jährige Storo zurück, der mit bürgerlichem Namen Renaldo Braun heißt. „So nennt mich aber fast niemand“, winkt er ab. Die Wohnwagenkolonne wird immer länger, „meistens waren es dann 40 bis 50 Wagen“.
Mülheimer reiste als Kind mit seiner Familie durchs ganze Land
In jedem dieser Wagen sitzt sie, die Familie. Das Größte, Wichtigste, ja Heiligste in der Kultur der Sinti. Und Storo Braun hat davon viel. Allein sein Opa, der Ende der 60er aus Süddeutschland nach Mülheim übersiedelt, hat 17 Kinder. Im ganzen Land verteilt leben Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins. Zu vielen hält der dreifache Vater regen Kontakt. „Familie steht bei uns an erster Stelle, ganz klar.“ Eines von vielen Vorurteilen über Sinti, das man im Volksmund hört. „Aber ein wahres“, sagt Braun. „Und längst nicht das negativste.“
Da gibt es vieles an Ressentiments: „Wir klauen, sind dreckig, ungebildet, faul, dumm und überhaupt alle gleich“, listet der 60-Jährige auf. Mit seiner linken Hand zählt er dabei parallel die Finger der rechten Hand ab, irgendwann gehen sie ihm aus. Der Blick aus seinen braunen Augen ist fest. Angesprochen auf das Z-Wort*, das er selbst ganz unverblümt ausspricht, – „wir Zigeuner“ – lächelt Storo Braun. Sein Blick wird weich, eingerahmt von Lachfalten. „So heißen wir nun mal“, stellt er fast schon trocken fest. Dass die Bezeichnung auf diskriminierende, rassistische Strukturen zurückgeht, „ändert nichts an der Geschichte“.
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Enge Freunde, erzählt Storo Braun, nennen ihn den „Zigeuner“. Und das ist in Ordnung, mehr als das – für ihn zumindest. „Es gibt Familienmitglieder, die das Wort nicht mögen. Meine Nichte zum Beispiel.“ Eine Generationenfrage? „Vielleicht.“ In der Gesellschaft hat die Debatte zumindest großes Spaltungspotenzial. Für Storo Braun ist sie vor allem aber eines: „Heuchlerisch.“ Unbeteiligte sprechen über das, was sie nicht betrifft und maßen sich eine Bewertung über Emotionen an, die sie nicht nachempfinden können. „Das ist falsch.“
Mülheimer Sinto: „Sinti und Roma werden oft über einen Kamm geschoren“
Für die Allgemeinheit seien Sinti und Roma „das Gleiche“ – die Kulturen der traditionsreichen Völker unbekannt. „Das finde ich viel schlimmer, ehrlich gesagt.“ Über Bezeichnungen lasse sich diskutieren, „da bin ich offen“. Was allerdings nicht geht: „Wenn mein Neffe sich nicht traut, seinen Geschäftspartnern gegenüber zu sagen, dass er Sinto ist.“ In diesem Zusammenhang spricht Storo Braun von einem „Outing“. Die Angst vor Zurückweisung spielt eine große Rolle. Das Schlaglicht, das Medienberichte auf die Volksgruppen werfen, in denen häufig verallgemeinernd von „Sinti und Roma“ die Rede ist, trägt für den 60-Jährigen nicht gerade dazu bei, dass Vorurteile abgebaut werden.
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„Herkunft sollte keine Rolle spielen“, findet Braun. „Leistung schon eher.“ Einer der Grundsätze, den er und seine Frau – „übrigens eine Deutsche“ – den drei erwachsenen Söhnen weitergeben. Überhaupt ist bei den Sinti „Bildung das A und O, der Schlüssel zum Erfolg“. Storo Braun selbst hat nach dem Besuch der Haupt- und dem Wechsel zur Realschule eine Lehre zum Dachdecker abgeschlossen, schulte dann irgendwann zum Steuerfachangestellten um. Meckern will er nicht, Mitleid schon gar nicht – wieso auch? „Aber ich musste immer mehr leisten als andere, um Vergleichbares zu erreichen.“
In der Kultur der Sinti gelten (strenge) Regeln
Die Brauns identifizieren sich als deutsche Sinti. „Die Wurzeln unserer Familie liegen in Italien“, erzählt Storo Braun. Er selbst spricht neben Deutsch und Italienisch noch Romanes, die Sprache von Sinti, aber auch Roma. „Da gibt es verschiedene Dialekte, man kann sich verständigen.“ Seinen Kindern hat er die Sprache beigebracht und großen Wert darauf gelegt. So will es die Kultur. Die sagt aber auch: „Man darf Romanes nicht an Außenstehende weitergeben.“ Vermutlich zum Schutze des Eigenen, schätzt Braun. Zum Schutze dessen, was im Laufe der Jahre oft Gegenstand von Verfolgung, Diskriminierung und strukturellem Rassismus war.
So haben der Holocaust, bei dem unterschiedlichen Schätzungen und Aufzeichnungen zufolge 250.000 bis 500.000 Sinti und Roma gestorben sind, genau wie rechtswidrige medizinische Experimente an Sinti und Roma eine wichtige Bedeutung. „Alte erzählen den Jungen davon, damit es nicht vergessen wird“, sagt Storo Braun. „Es ist unser Erbe, wenn auch ein bitteres.“
Mülheimer stellt kulturelle Regeln über familiäre Strukturen
Das Weitergeben an die nächste Generation ist in der Sinti-Kultur wichtig. Nicht nur die Sprache oder die Historie. „Wir haben einige Regeln. Die sind unumstößlich.“ Storo Braun nennt einige, zählt wieder an den Fingern ab. So lautet etwa eine Regel: „Wir essen kein Pferdefleisch.“ Zurück geht dieser Grundsatz auf die alte Verbundenheit zwischen dem ehemals ziehenden Volk und den Lasttieren, „die oft wie Familienmitglieder waren“. Welche Strafe droht bei Regelverstoß? „Wir haben Fürsprecher, eine Art Familienrat. Der entscheidet dann.“ Meist werden die Personen „zurückgesetzt“, nennt Storo Braun es. „Ich würde mit so jemandem nicht mehr an einem Tisch sitzen.“
Weitere Regeln: „Frauen tragen ab einem gewissen Alter vor Männern mindestens einen knielangen Rock. Wir erlernen keine medizinischen Berufe. Wenn jemand gestorben ist, isst man kein Fleisch, solange die Person nicht unter der Erde liegt. Wir ehren die Alten und beschützen uns gegenseitig.“ Die Art der Auslegung ist für jeden persönlich handzuhaben. „Manche sehen das strenger, andere weniger streng.“ Manche Regeln sind in der Sinti-Kultur aber auch wichtiger als andere. „Würde einer meiner Söhne Arzt werden wollen, müsste ich mit ihm brechen“, sagt Storo Braun. „Oder wenn ich es akzeptiere, dann ich mit meinen Eltern. Aber das geht nicht. Nie.“
* Die Redaktion hat sich entschieden, das Z-Wort nicht in ausgeschriebener Form zu verwenden. Etwaige Nennungen im Text gehen auf wörtliche Zitate zurück.
>>> Das sagt der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma...
- … zum Z-Wort: „,Zigeuner’ ist eine von Klischees überlagerte Fremdbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft, die von den meisten Angehörigen der Minderheit als diskriminierend abgelehnt wird – so haben sich die Sinti und Roma nämlich niemals selbst genannt.“ Die Bezeichnung sei mit rassistischen Zuschreibungen verbunden, „die sich, über Jahrhunderte reproduziert, zu einem geschlossenen und aggressiven Feindbild verdichtet haben, das tief im kollektiven Bewusstsein verwurzelt ist“. Das Z-Wort werde häufig als Schimpfwort benutzt. „Wer dafür plädiert, den Ausdruck ,Zigeuner’ als Sammelbezeichnung ,wertneutral’ zu verwenden, blendet nicht nur diesen historischen Kontext aus.“
- ... zum Unterschied zwischen Sinti und Roma: Die Begriffe bezeichnen zwei verschiedene Teile einer Minderheit. So liegen die Wurzeln der „Sinti“ in Mitteleuropa, die der „Roma“ in Ost- beziehungsweise Südosteuropa. „Die nationalen Sinti- und Roma-Gemeinschaften sind durch die Geschichte und Kultur ihrer jeweiligen Heimatländer stark geprägt. Dies hat sich auch in der Sprache der Sinti und Roma, dem Romanes, niedergeschlagen: Durch die Aufnahme von Lehnwörtern aus der jeweiligen Landessprache haben sich in den verschiedenen Staaten Europas über die Jahrhunderte unterschiedliche Romanes-Sprachen herausgebildet.“