Essen. Können wir denn ernsthaft über eine Legalisierung von Cannabis streiten – am Vorabend einer möglichen atomaren Vernichtung Europas? Ja, sicher!
„Hallo Paps!“ Ich sitze am Esstisch und mein Sohn schlendert an mir vorbei in Richtung Küche, genauer: Kühlschrank. Sein Gang und sein Gruß demonstrieren eine Lässigkeit, wie ich sie sonst nur von Bruce Willis in seinen Stirb-langsam-Filmen kenne; das liegt in etwa zehn Prozent über dem, was ich sonst von meinem supercoolen Sohn gewohnt bin. Was also, denke ich mir, hat der kleine Kerl vor? Im nächsten Moment öffnet er mit demonstrativer Selbstverständlichkeit das Tiefkühlfach und holt sich ein Eis heraus – bereits das zweite an diesem Abend. „Das ist jetzt nicht Dein Ernst“, ermahne ich ihn. „Ach Paps“, fällt er mir ins Wort und legt eine Mischung aus Arroganz und Mitleid in seine Stimme, „haben wir keine anderen Probleme?“ „Nein, welche?“, frage ich zurück. „Na Putin und der Krieg in der Ukraine“, sagt mein superschlauer Sohn und fügt, während er das Eis bereits vom Papier befreit, schnell hinzu, dass seine kleine Schwester schließlich auch schon zwei Bonbons bekommen habe. Und schon geht er weg. Schmatzend.
Haben wir eigentlich keine anderen Probleme? Diesen Satz höre und lese ich in diesen Tagen immer häufiger. Frauenquote, Gendern, N-Wort, Z-Wort. Haben wir keine anderen Probleme? Winnetou und die Indianer. Haben wir kein anderen Probleme? Oben ohne im Schwimmbad. Haben wir keine anderen Probleme?
Atombomben und vegane Würstchen
Die Antwort, liebe Freundinnen und Freunde, lautet: Natürlich haben wir die. Unser größtes Problem sind Menschen, die jede Diskussion abwürgen mit der Frage, ob wir denn keine anderen Probleme hätten. Denn trotz der tödlichen Bedrohungen durch Corona, Klimawandel, Putins Atombomben und vegane Würstchen, die man auf einer Grillparty nicht direkt als solche erkennen kann, geht unser normal-problematisches Leben ja weiter. Ich jedenfalls mag nicht zur Salzsäule erstarren und nur noch darauf warten, ob der verlogen-verkommene Diktator aus dem Kreml auf den roten Knopf drückt oder nicht. Ich möchte mich trotzdem über Precht und seine Möchtegerne-Philosophie öffentlich aufregen dürfen, über die schlechten Leistungen von Schalke und dem VfL – und auch die Frage, ob wir weiche Drogen legalisieren sollten oder nicht, ist eine sehr berechtigte. Let‘s talk about it!
Bleiben wir kurz beim Thema Cannabis-Legalisierung. Es gibt gute Gründe dafür und gute dagegen; ich habe dazu noch keine abschließende Meinung, neige aber eher zur Legalisierung, weil das den Schwarzmarkt trockenlegen könnte. Neulich las ich in einem Kommentar, Gesundheitsminister Lauterbach solle sich besser auf das andere C-Thema konzentrieren, Sie wissen schon: Corona. Da hätte er genug zu tun. Ist dieser Hinweis nicht legitim?
Totschlagargument
Natürlich sind unsere Ressourcen limitiert. Vor allem Zeit, das merkt man verstärkt, wenn man älter wird, ist endlich. Nicht immer muss der Hinweis auf wichtigere Probleme verfehlt sein. Wenn das Haus brennt, sollte man das Feuer löschen und sich nicht zuerst um den Abwasch in der Küche kümmern. Das liegt auf der Hand. Meist aber dient der Hinweis als Totschlagargument. Indem man die Wichtigkeit einer Debatte in Frage stellt und damit die Debatte selbst und denjenigen, der sie führen will, diskreditiert („Hast Du nichts Besseres zu tun?“), bekämpft man verdeckt das Ziel, das mit dem Führen der Debatte verbunden ist. Wer also meint, Lauterbach solle sich lieber mit Corona statt mit Cannabis beschäftigen, dürfte in aller Regel etwas gegen die Legalisierung weicher Drogen haben, kann oder will aber keine eigenen seriösen Argumente vorbringen. Statt selbst Stellung zu beziehen, wird auf (vermeintlich) wichtigere Probleme verwiesen.
Dabei ist doch völlig klar: Wäre die Debatte tatsächlich so unwichtig – warum meldet sich derjenige, der das findet, überhaupt zu Wort? Könnte ihm die Debatte nicht egal sein? Warum ist es jemandem wichtig, auf eine angebliche Unwichtigkeit hinzuweisen? Wie lautet noch gleich der Kommentar-Einstieg, der uns auf der Journalistenschule verboten wurde? Richtig: „Eigentlich ist das Thema ja gar keinen Kommentar wert. Aber ...“ Und dann folgen 100 mehr oder weniger verlogen-verlorene Zeilen.
Das Was-ist-mit?-Ablenkungsmanöver
Im Grunde ist der Haben-wir-keine-anderen-Probleme-Hinweis die Spezialform eines Whataboutism oder, eingedeutscht, dass sich einem die Fußnägel aufrollen: Whataboutismus. „What about...?“ bedeutet übersetzt: „Was ist mit ...?“ Es handelt sich hier um einen argumentativ-rhetorischen Trick, um eine Kritik mit einer Gegenkritik zu beantworten, die die ursprüngliche Kritik relativieren soll. Es ist ein Ablenkungsmanöver.
Putin und seine Getreuen beherrschen diese Form der sprachlichen Manipulation aus dem Effeff. Wer den Russen vorhält, ihr Angriff auf die Ukraine sei eine Verletzung des Völkerrechts, dem wird die Frage vorgehalten, wie denn dann der Einmarsch der USA in den Irak zu beantworten sei. Wer den Russen vorhält, sie spielten öffentlich mit dem Gedanken, Atombomben einzusetzen, dem wird die Frage vorgehalten, wie denn die Atombomben-Abwürfe der USA auf Hiroshima und Nagasaki zu bewerten seien. Als ob es eine Gleichheit im Unrecht gäbe, mehr noch: in Unmenschlichkeit.
Zwei Eis für den Weltuntergang
Also, keine Sorge, mein lieber Sohn und ihr anderen Problem-Relativierer: Den drohenden Weltuntergang behalten wir im Auge, während wir Cannabis legalisieren oder lieber nicht und ein zweites Eis essen oder lieber nicht. Versprochen.
Räumt die Tassen bitte wieder in den Schrank - wenn´s keine Probleme macht.
Auf bald.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.
Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.
Klartext als Newsletter? Hier anmelden.