Mülheim. Eine Flüchtlingsunterkunft für bis zu 700 Menschen plant das Land in Mülheim-Raadt. Wie die Anwohner die geplante Ansiedlung bewerten.
Hunderte von Geflüchteten in nächster Nachbarschaft, in einem kleinen Stadtteil mit weniger als 5000 Einwohnern. Einem Stadtteil, der etwa einen Supermarkt schmerzlich vermisst und keine direkte ÖPNV-Anbindung in die Innenstadt hat – was sagen die Anwohnerinnen und Anwohner aus Raadt zur geplanten Flüchtlingsunterbringung? Wir haben nachgefragt.
Dass den flüchtenden Menschen so gut wie eben möglich geholfen werden muss, finden Andree und Nina Czerwinski. Sie sind vor knapp drei Jahren in die Neubausiedlung an der Theo-Wüllenkemper-Straße gezogen und fühlen sich hier rundherum wohl. Dass sie ihre beschauliche Nachbarschaft womöglich bald mit Hunderten geflüchteten Menschen teilen werden, stört das Ehepaar, das gerade sein drittes Kind erwartet, nicht.
Im Gegenteil: „Ich finde das super“, sagt Andree Czerwinski. „Wo sollen die Menschen denn hin, wenn nicht hierhin?“, fragt der Raadter und blickt aus seinem winterlichen Vorgarten auf die breite Flanke des großen Bürogebäudes des ehemaligen Telekom-Komplexes. Der 40-Jährige gibt aber zu bedenken: „Wäre nicht eine dezentrale Unterbringung für die Menschen wünschenswerter, im Sinne von Durchmischung und Integration?“
Junge Familie hat bereits jetzt Schwierigkeiten, Plätze in der Kita zu bekommen
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Seine Frau Nina findet es ebenfalls „in Ordnung, dass das Gebäude dann sinnvoll genutzt wird. Das ist ein ehrenwerter Ansatz.“ Wo es allerdings eng werden könnte, meint Nina Czerwinski, ist die Unterbringung von geflüchteten Kinder und Jugendlichen. „Wir haben hier oben weder eine Kita noch eine Schule, das ist jetzt schon eine Katastrophe“, sagt die 38-Jährige und findet: „Infrastrukturell hinkt Raadt hinterher.“
Ein anderer Anwohner, Vater eines Säuglings und einer Vierjährigen, kann das so nicht bestätigen: „Wir haben problemlos einen Kita-Platz gefunden und sind mit der Bus-Anbindung zufrieden.“ Wenn künftig mehr Menschen in Raadt leben werden, gerade solche, die vor Bomben aus ihrer Heimat geflohen sind und mitunter Gewalt erlebt haben, würde er sich mit seiner Familie in der Neubausiedlung nicht weniger sicher fühlen als bisher, sagt der 40-Jährige und meint: „Das Herz sagt ja: Die Menschen müssen irgendwo untergebracht werden.“ Doch wenn es an die eigene Komfortzone ginge, fürchtet er, sei es mit der Integration bei manchen schon nicht mehr weit her.
Raadter bemängeln fehlende Infrastruktur in ihrem Mülheimer Stadtteil
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Ein Ur-Raadter, der auf den Höhen am Flughafen vor über 70 Jahren das Licht der Welt erblickte, sieht die mangelnde Infrastruktur in seinem Stadtteil auch als größtes Problem an und kritisiert: „Hier gibt’s nicht mal mehr den kleinen Kiosk, der noch an der ehemaligen Bahn-Haltestelle war, und der Bus fährt nur ein Mal die Stunde, dann muss man auch noch am Hauptfriedhof umsteigen.“
Wenn die Ansiedlung der Geflüchteten in letztlich zwei großen Unterkünften – im ehemaligen Telekom-Komplex an der Parsevalstraße und auf dem Gelände der ehemaligen Stadtgärtnerei – dann vielleicht auch den Bau eines Lebensmittelmarktes mit sich brächte, hätte der ganze Stadtteil etwas davon, blickt der Senior in die Zukunft. So oder so findet der 74-Jährige: „Wir müssen den Menschen helfen, das ist Menschenpflicht.“
Vorsitzende der Siedlergemeinschaft „Am Flughafen“ sieht soziales Ungleichgewicht
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Ob aber das beschauliche Raadt der richtige Ort dafür ist, stellt Brigitte Dressler, Vorsitzende der Siedlergemeinschaft „Am Flughafen“, infrage: „Unsere Infrastruktur ist gleich null. Mein Enkel muss mit dem Auto neun Kilometer zur Kita in Broich gebracht werden“, kritisiert die mehrfache Oma. Dressler findet, eine Einrichtung für Geflüchtete passe nicht gut in den Stadtteil, „hier ist auch kein Arzt, den man fußläufig erreichen kann“. Mit Blick auf die Pläne einer Landeseinrichtung fragt sie: „Kann man sich dagegen wehren?“
Wohl kaum, macht Bezirksbürgermeisterin Britta Stalleicken deutlich. „Das sind ja die Planungen des Landes, das ist da autark“, erklärt die Grünen-Politikerin und betont ihre Zustimmung zu dem Projekt: „Es ist eine Frage der Humanität, zu helfen. Wir haben in Mülheim noch viel Potenzial zum Teilen.“ Auch wenn ein Zuwachs an Menschen gewachsenen Strukturen wie denen in Raadt auch erst mal Probleme machen könne, räumt Stalleicken ein und betont, den Prozess im engen Austausch mit den Anwohnenden begleiten zu wollen.
Was etwa die Betreuung von geflüchteten Kindern angehe, seien bereits Gespräche geführt worden, berichtet die Bezirksbürgermeisterin und regt etwa einen weiteren Waldkindergarten an, der mit wenig Infrastruktur auskäme. Mit Blick auf die Art der Unterbringung der Geflüchteten sagt die Grünen-Politikerin: „Aufenthaltsqualität und Intimsphäre müssen sein, die Menschen haben schließlich viel aufzuarbeiten.“
Vorsitzende der Siedlergemeinschaft: „Da ist doch Unmut programmiert“
Die Vorsitzende der Siedlergemeinschaft „Am Flughafen“ warnt indes vor sozialem Ungleichgewicht: „Wir sitzen hier in einem der teuersten Stadtteile Mülheims teils zu zweit auf mehreren Hunderten Quadratmetern und die Menschen müssen in dem Bürokomplex wohnen. Da ist doch Unmut programmiert.“
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Sollten die Vertragsverhandlungen zwischen Land und Immobilien-Eigentümer erfolgreich sein, sehen auch der Ortsverbandsvorsitzende der CDU, Henner Tilgner, und die stellvertretende Vorsitzende des SPD-Ortsvereins, Nadia Khalaf, Herausforderungen auf den Stadtteil, aber auch die Stadtgesellschaft zukommen. Nicht nur die Infrastruktur vor Ort sei bedenklich, meint etwa Khalaf. Sie fordert zu Gesprächen mit Discountern auf, ob ein zusätzlicher Lebensmittelmarkt in der Nähe gebaut werden könnte, weil eine preisgünstige Nahversorgung selbst in Holthausen nicht gegeben sei.
„Wir müssen Initiativen zusammenbringen, es muss eine soziale Integration stattfinden“
Sie und Tilgner sehen nun Land und Stadtverwaltung in der Verantwortung, die Anwohner fortan mit allen neuen Informationen zu versorgen, für Gespräche bereitzustehen und vorzubereiten, mit welchen Angeboten die neu ankommenden Menschen integriert werden können. Sozialdezernentin Grobe hatte deutlich gemacht, auch in diese Richtung zu denken. „Wir müssen Initiativen zusammenbringen, es muss eine soziale Integration stattfinden“, sagt Tilgner. Dieser Herausforderung würden sich gemeinschaftlich auch die Parteien stellen.
Haben Sportvereine die Möglichkeit, neue Gruppen einzurichten und Bewegungsangebote zu machen? Wer kann ehrenamtliche Projekte anbieten? Welcher Träger wird die Einrichtung betreuen, und welche Angebote wird er selbst machen? Auch schulische? Das sind Fragen, die SPD-Frau Khalaf umtreiben. Es gelte zu verhindern, dass die Menschen dort „nur in der Einrichtung hocken und an die Decke starren“. Da sei Mülheims Verwaltung gefordert, „es in positive Bahnen zu lenken“. Integration könne gelingen, meint Nadia Khalaf. „Nur muss man sich dafür auch engagieren.“