Mülheim. Mülheim ist jetzt „stillfreundliche Kommune“ und richtet geschützte Räume ein. Was machen Väter mit Baby? Die Antwort ist überraschend einfach.

Neulich im Rhein-Ruhr-Zentrum: Etwas abseits der adventlichen Einkaufsströme hat ein Paar auf einer gepolsterten Bank Platz genommen, den Kinderwagen neben sich geparkt. Die Mutter hält das Baby im Arm und stillt es, ihre Winterjacke hat sie wie eine Decke über die Schulter gelegt, um Blicke der Vorbeigehenden abzuschirmen. Zwar gibt es zwei Wickelräume im Center, ein eigens eingerichtetes Stillzimmer jedoch nicht. Noch nicht.

Mülheim arbeitet daran, dass stillende Mütter reichlich ungestörte Plätze finden. Im Sommer wurde die Stadt als „stillfreundliche Kommune“ ausgezeichnet. Diesen Titel vergibt der Hebammenverband Nordrhein-Westfalen, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: Es muss ein geschützter Bereich, möglichst ein geschlossener Raum, in öffentlichen Gebäuden mit Publikumsverkehr zur Verfügung stehen. Dort muss es einen bequemen Stuhl, eine Wickelmöglichkeit und ein kostenloses Getränk geben (Leitungswasser reicht aus). Zudem müssen Wegweiser den Stillbereich kennzeichnen.

Mülheim darf sich „stillfreundliche Kommune“ nennen

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Das Projekt „stillfreundliche Kommune“ wird in Mülheim maßgeblich von den Familienhebammen und dem Netzwerk Frühe Hilfen vorangetrieben. Sechs Stillinseln gibt es momentan, eine davon im Ladenlokal der Familienhebammen an der Wallstraße 5. Dort können sich Mütter mit Säuglingen in einen separaten Raum mit Couch und Wickeltisch zurückziehen – während der Öffnungszeiten (montags bis freitags von 9 bis 16 Uhr) auch spontan ohne telefonische Anmeldung.

Jacqueline Holtermann etwa hat vor zwei Wochen ihre kleine Tochter Rosa Valentina zur Welt gebracht und nimmt das Angebot zum ungestörten Stillen gerne an. Ebenso wie die kostenlose Beratung durch Netzwerkkoordinatorin Jennifer Jaque-Rodney, die die junge Mutter schon durch die Schwangerschaft begleitet hat. „Ich war anfangs sehr unsicher“, sagt die 28-Jährige, offenkundig dankbar dafür, dass sie nun mit der Neugeborenen gut zurechtkommt, dass es auch mit dem Stillen seit der ersten Stunde problemlos läuft.

In den Stillinseln sind auch Väter willkommen

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Dieses Glück haben nicht alle Frauen, weiß die erfahrene Stillberaterin Jennifer Jaque-Rodney: „Bei vielen Müttern, die vorhaben zu stillen, klappt es nicht wie geplant – weil das Kind zu klein ist, krank ist oder weil sie Zwillinge haben und damit überfordert sind.“ Das Stillen erleichtere durch den Haut- und Körperkontakt zwar eine intensive Bindung zwischen Mutter und Kind, so die Familienhebamme, „doch jede Frau entscheidet, was für sie und ihr Kind am besten ist – und wir sind damit einverstanden“.

Daher seien in den Stillinseln auch alle Mütter willkommen, die ihr Kind wickeln, ihm die Flasche geben, kurz die Füße hochlegen möchten. Ebenso Väter, die mit Baby unterwegs sind. Mülheim brauche mehr ungestörte Orte in öffentlichen Gebäuden, meinen die Familienhebammen. „Im nächsten Schritt wollen wir Geschäfte oder Cafés ansprechen und ihnen vorschlagen, einen geschützten Bereich einzurichten“, sagt Jennifer Jaque-Rodney.

Beraterin: Viele Mütter wollen zu Hause stillen und unterwegs lieber die Flasche geben

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Dass es noch einiges zu tun gibt, findet auch die Mülheimerin Ute Voß, international zertifizierte Laktationsberaterin. Zwar sei es nicht mehr wie vor 25 Jahren, „als Frauen fast beschimpft wurden, wenn sie ihr Kind in der Öffentlichkeit an die Brust legten“. Doch nach ihrem Eindruck trauen sich viele Frauen auch nicht mehr, ihr Kind in der Stadt zu stillen, so Ute Voß. „In der Stillambulanz werde ich oft gefragt, wie man es hinbekommt, zu Hause zu stillen und unterwegs die Flasche zu geben.“

Letztens habe sie noch von einer jungen Mutter gehört, die in einem Innenstadt-Café zum Stillen auf die Toilette geschickt wurde. „Sie hat das Café daraufhin verlassen.“ Ein Unding, findet Ute Voß, „das ist alles andere als stillfreundlich. Ich möchte mein Butterbrot doch auch nicht auf dem Klo essen.“ Früher habe es in der City auch große Bekleidungsgeschäfte wie C&A gegeben, wo Mütter sich zum Stillen in eine Umkleidekabine zurückziehen konnten. „Diese Möglichkeiten gibt es jetzt kaum noch.“

Beispiel Forum: Wickelraum ohne Sitzgelegenheit

Im Einkaufszentrum Forum beispielsweise gibt es zwar einen Wickelraum, doch ohne Sitzgelegenheit für stillende Mütter. Jennifer Jaque-Rodney berichtet, sie habe kürzlich in einem beliebten City-Café zwei junge Mütter angesprochen, denen es dort zum Stillen zu voll war. Denn, so die Beraterin, „wenn man so viele unterschiedliche Leute um sich herum hat, möchte man deren Blicke nicht interpretieren müssen, sondern sich nur auf das Kind konzentrieren.“

Alle Stillinseln im Überblick

Sechs Stillinseln gibt es aktuell in Mülheim, weitere sollen bald folgen.

Rückzugsräume finden Mütter im Familienhebammenladen (Wallstraße 5, Innenstadt, 0208/455-1500) und bei den Caritas-Sozialdiensten (Hingbergstraße 176, Stadtmitte, 0208/30008-97).

Auch vier evangelische Familienzentren sind dabei: „Sonnenschein“ (Kleiststraße 58, Heißen, 0208/490316), „Lindenhof“ (Waldbleeke 47, Saarn, 0208/486933), „Muhrenkamp“ (Muhrenkamp 8, Altstadt, 0208/35841) und „Die kleinen Strolche“ (Feldstraße 17, Styrum, 0208/401187),

In diesem Sinne habe sie die beiden jungen Mütter mitgenommen in den Hebammenladen – „sie waren total dankbar und wollen jetzt auch anderen Frauen in ihrer Babygruppe erzählen, dass es dieses Angebot gibt“. Noch fehlt eine Auflistung aller Mülheimer Stillinseln im Internet – eine Übersicht soll Anfang 2023 auf der Homepage der Stadt Mülheim erscheinen.