Mülheim. Fast ein Drittel der jungen Mülheimer hat in der Coronazeit stark gelitten – und tut es zum Teil noch heute. Die Ergebnisse einer neuen Studie.
Knapp einem Drittel der Mülheimer Kinder und Jugendlichen ist es in der Coronakrise schlecht ergangen. Das belegt eine neue Studie, die auf einer großangelegten Befragung von Schülern und Schülerinnen beruht. Einer der Autoren, der Bildungsforscher Prof. Dr. Christian Reintjes, fordert Politik und Verwaltung auf, das Ergebnis endlich ernstzunehmen. Bislang werde „die psycho-emotionale Dimension der Krise“ kaum beachtet, geschweige denn aufgearbeitet.
„Man darf das nicht verdrängen“, warnt Reintjes, „die Probleme kommen sonst immer wieder hoch.“ Auch wenn der Präsenzunterricht längst wieder angelaufen ist – „Das heißt nicht, dass die Krise vorbei ist und wir einfach weitermachen können wie früher.“ Der Wissenschaftler verdeutlicht seine Sorge: „Wenn wir uns nicht kümmern, wird es deutlich mehr Kinder und Jugendliche mit massiven psychischen Problemen bis ins Erwachsenenalter geben.“ Die Folgen der Pandemie könnten sich auf viele Lebensbereiche auswirken: „Auf die Bindungsfähigkeit der jungen Menschen, auf ihre Teamfähigkeit …“
Fragebogen ging an 20.700 Schüler und Schülerinnen aus Mülheim
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Im Februar und März 2022 waren alle 20.700 Schüler und Schülerinnen der Stadt dazu aufgerufen, den Fragenkatalog zur Studie „Schule und Corona“ auszufüllen. Initiatoren des Projekts waren neben Reintjes, der an der Uni Osnabrück Schulpädagogik lehrt, auch seine dortige Kollegin Prof. Dr. Sonja Nonte sowie Prof. Dr. Harald Karutz, der bis Juli im Mülheimer Krisenstab für das psychosoziale Krisenmanagement verantwortlich war.
Schon 2021 hatte Reintjes die Studie in Osnabrück durchgeführt, „damit die Kinder und Jugendlichen endlich eine Stimme in der Pandemie bekommen“. Denn bis dato habe niemand gewusst, wie es den jungen Menschen wirklich geht. „Der Bedarf, solche Daten aus Kinderperspektive zu erheben, wurde damals noch nicht gesehen – und wird nach wie vor nicht wirklich erkannt.“ Die Bildungsexperten aber wollten es wissen: Wie wirken sich Schulschließungen aus, wie werden Isolation und Quarantäne erlebt? Wie ist das Befinden der Kinder: psychisch, körperlich, häuslich, schulisch? Welche Wünsche existieren?
„Den Jugendlichen ging es in der Pandemie zum Teil unterirdisch schlecht“
Auch in Mülheim sei man zunächst auf Skepsis gestoßen, berichtet Reintjes. „Bei der Stadt war man zunächst zurückhaltend.“ Seine Mitstreiter und er aber ließen sich nicht beirren, „wir wussten, dass wir die Eltern im Rücken haben“. Die Fragebögen also gingen raus – und 915 Kinder und Jugendliche beantworteten sie digital. Unter anderem nahmen 285 Gymnasiasten teil, 284 Realschüler, 96 Gesamtschüler und 242 Grundschüler.
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Die Umfrage offenbarte Erschreckendes: „Den Jugendlichen ging es in der Pandemie zum Teil unterirdisch schlecht.“ Gerade aus den weiterführenden Schulen, und da besonders aus den Gesamtschulen, habe man die Rückmeldung bekommen, „dass sich Schüler häufiger krank fühlten, dass sie müde und schlapp waren, Kopf- oder Bauchschmerzen hatten“. Jüngeren Schülern sei es besser ergangen, sagt Reintjes. Die Antworten zeigten deutlich, „dass das Wohlbefinden mit wachsendem Alter abgenommen hat“.
„Für die meisten Kinder und Jugendlichen war die Mutter die erste Ansprechpartnerin“
Ähnliches war schon in Osnabrück herausgekommen. Gezeigt hätten die Daten auch einmal mehr, „dass die Coronakrise von Frauen bewältigt worden ist“, so der 46-Jährige. „Für die meisten Kinder und Jugendlichen war die Mutter die erste Ansprechpartnerin“ – vor allem während des Homeschoolings. Mehrheitlich hätten sie sich dabei unterstützt gefühlt; „doch es gab leider auch jene 29 Prozent der Schüler, die sehr schlecht damit klargekommen sind, dass sie über lange Zeit nicht zur Schule gehen durften“. Wer sich nie oder nur selten austauschen konnte, habe zum Teil „starke physische und psychische Belastungen durch die Schulschließungen erlebt“.
Und die negative Erfahrung der Isolation wirke bis heute nach: zum Beispiel beim selbst regulierten Lernen. In allen Altersstufen gebe es Schüler, denen es noch immer schwerfalle, einen Lernrhythmus zu finden, Zeitpläne einzuhalten, Aufgaben zu Ende zu bringen, sich nicht ablenken zu lassen.
Forscher: Politik, Stadt, Schulen und Jugendeinrichtungen müssen jetzt tätig werden
Daten liegen mittlerweile im großen Stil vor, weitere Erhebungen sollen noch folgen. Das allein aber genügt nicht, betont Reintjes. „Aus den Erkenntnissen muss sich auf städtischer Ebene dringend etwas entwickeln. Die Situation wird nicht besser, wenn man die Augen davor verschließt.“ Er hofft, dass sich Politik, Stadt, Schulen und Jugendeinrichtungen zusammenschließen.
In Osnabrück habe man die Zeichen der Zeit mittlerweile „auf höchster Ebene“ erkannt, „da hat keiner mehr Angst davor, das Thema anzugehen“. Und so sei manches angestoßen worden: Die Sportvereine etwa sind an Sonntagen für alle Kinder und Jugendlichen geöffnet. Sie können kostenfrei ausprobieren, was sie mögen, und werden dabei von Sportstudenten, die Gelder unter anderem von Stiftungen erhalten, angeleitet. Anfängliche Bedenken der Vereine hätten sich nicht bewahrheitet: „Durch den ,open sunday’ verlieren sie keine Mitglieder, sondern gewinnen eher noch welche“, so Reintjes. Er glaubt, dass ein solches Modell auch in Mülheim umzusetzen ist, womöglich mit Studenten der Uni Duisburg-Essen.
Eine Idee: Lehramtsstudenten könnten Kindern bei den Hausaufgaben helfen
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Dort gebe es ja auch eine große Zahl angehender Lehrer und Lehrerinnen; diese könnte man laut Reintjes auch in Schulen und im Ganztag einsetzen. „Um beispielsweise Kinder zu unterstützen, die zu Hause niemanden haben, der ihnen den Umgang mit digitalen Endgeräten zeigen kann oder der bei den Hausaufgaben hilft.“ Auch dieses Tutoren-Projekt habe man in Osnabrück erfolgreich umgesetzt.
„Die Wissenschaft findet heraus, wie’s um die Gesellschaft steht, und gibt Anregungen – die Politik muss reagieren“, so Reintjes. Andernfalls müsse man wohl von „unterlassener Hilfeleistung“ sprechen. Die neue Studie wurde der Stadtverwaltung und der Stadtelternschaft jüngst vorgestellt, zudem war sie Thema einer Fachtagung für Mitarbeiter der hiesigen Jugendzentren in der Katholischen Akademie Wolfsburg. Ende November beschäftigt sich auch der Mülheimer Bildungsausschuss damit.
Reintjes: „Lehrer und Lehrerinnen sollten in Krisenkompetenz fortgebildet werden“
Um die Kinder und Jugendlichen aufzufangen, ist Geld vonnöten. Der Bildungsforscher hofft auf Förderer wie Stiftungen. Es gebe so viel zu tun: „Die Schulsozialarbeit muss ausgebaut werden, die psychologische und die seelsorgerische Begleitung.“ Außerdem müssten dringend die Lehrer und Lehrerinnen „in Krisenkompetenz fortgebildet“ werden, „damit sie die Folgen einer solchen Situation abschätzen und den Schülern besser zur Seite stehen können“.
Überhaupt, die Lehrkräfte. Die will Reintjes keinesfalls vergessen. „Wenn man sagt: ,Ihr müsst das jetzt alles reparieren!’, muss man sie unbedingt unterstützen.“ Andernfalls drohe völlige Überlastung. So müsse es neben Schulungen auch eine Möglichkeit zum steten Austausch untereinander und zur Supervision geben, fordert Reintjes. Er betont: „Schulen gehören zur kritischen Infrastruktur. Sie sind nicht nur Ort für Lernen und Qualifikation – sondern ganz sicher auch Lebens- und Entwicklungsraum für junge Menschen.“