Mülheim. Eisnächte unter freiem Himmel sind das Allerletzte, sagt ein Mülheimer, der’s wissen muss. Das Diakonische Werk und die Stadt helfen Obdachlosen.

Minustemperaturen im zweistelligen Bereich – und dann auf der Straße leben? Frank Schuster (Name geändert) kann erzählen, wie schlimm sich das anfühlt. In den vergangenen Jahrzehnten war der 57-jährige Mülheimer immer wieder obdachlos. Aktuell hat er ein Dach über dem Kopf, ein kleines, aber warmes Zuhause, ein Bett. Die Gefährdetenhilfe für Wohnungslose des Diakonischen Werkes hat ihm einen Platz in der Notschlafstelle an der Kanalstraße besorgt und kürzlich sogar eine einfache Wohnung im Nachbarhaus. Schuster ist heilfroh: „Bei so einer Kälte draußen zu schlafen, ist das Allerletzte.“

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„Mit zwei, drei Schlafsäcken übereinander“ habe er die Eisnächte früher irgendwie überstanden. Nervös aber machten die Geschichten von den Kollegen „auf Platte“, die des Nachts erfroren waren. „In Mülheim gab es solche Fälle zum Glück lang nicht mehr“, sagt Diplom-Sozialpädagoge Peter Sinz, einer der Menschen, die Schuster und Leidensgenossen aktuell helfen.

Im Gefängnis gesessen für Fahren ohne Fahrerlaubnis

Das Leben hat den gebürtigen Mülheimer viele Bekanntschaften machen lassen, ihn an diverse Orte gespült: nach München, Bremen, Antwerpen, Berlin und zeitweise ins Gefängnis. „Für Taten wie Fahren ohne Fahrerlaubnis oder Schwarzfahren.“ Eine Leidenschaft für Autos hat er, ließ sich deshalb einst zum Autolackierer ausbilden. Der Führerschein aber ist seit Mitte der 80er weg. Schuld war und ist der Alkohol. „Die Sauferei“, so sagt er, habe in der Jugend begonnen, im Kreise der Kumpels. „Damals haben wir das nicht ernstgenommen – heute sehe ich das anders.“

Auch an anderen Stellen finden Obdachlose Unterstützung

In Mülheim kümmern sich auch andere Stelle um Obdachlose, so der Verein „Aufwind“. Karlheinz Gutzler engagiert sich dort seit Langem. Im Hinterhof des Gemeindehauses an der Auerstraße werden mittags Brötchen, Aufschnitt, Kaffee und Kuchen ausgegeben, mittwochs, freitags und fast immer samstags. Gutzler erlebt die Hilfebedürftigen in der Coronazeit als besonders „mutlos“ und „oft depressiv“.

Auch „Solidarität in Mülheim“ hilft weiterhin: Man finanziere sich zu 100 Prozent aus Spenden, schreibt die Vereinigung. Selbst „einer lächerlich kleinen Förderanfrage“ habe die Stadt jüngst eine Absage erteilt. „Es ging um 500 bis 1000 Euro monatlich.“ Man frage sich, ob die Verteilung der öffentlichen Gelder wirklich gerecht sei, und fordere die Politik auf, sich mit dem Thema zu beschäftigen.

Er habe im Leben „eine Menge vergeigt“. Jobs gefunden und verloren, Wohnungen bezogen und wieder verlassen. Oft fehlte es an Geld, gab es einen Rausschmiss wegen ausstehender Mietzahlungen. In Antwerpen zeltete Schuster im Garten einer Kneipe, am Starnberger See besetzte er mit zwei Bekannten ein Abbruchhaus, in Bremen hatte er eine Freundin mit Kneipe im Drogenviertel. Da sei Kokain ins Spiel gekommen. Zwischendrin blieb nur die Straße als Domizil: So in München, wo der Obdachlose unter der Überdachung eines Hauses schlief, in dessen Keller Leichen untersucht wurden. „Das war mein ,Hotel Pathologie’.“

Der Altstadtfriedhof war über Monate sein Zuhause

Das Haus mit den einfachen Einzimmer-Wohnungen, in dem Frank Schuster untergekommen ist, erhält ein neues Dach. Es liegt an der Kanalstraße unweit der Stadthalle. Rechts daneben befindet sich eine der Notschlafstellen der Stadt Mülheim.
Das Haus mit den einfachen Einzimmer-Wohnungen, in dem Frank Schuster untergekommen ist, erhält ein neues Dach. Es liegt an der Kanalstraße unweit der Stadthalle. Rechts daneben befindet sich eine der Notschlafstellen der Stadt Mülheim. © FFS | Oliver Müller

Das Heimweh trieb ihn zurück nach Mülheim. Über vier Monate, bis zum Spätherbst, war der Altstadtfriedhof sein Zuhause. Unter dem Vordach der Trauerhalle fanden der 57-Jährige, der wegen einer Nervenschädigung auf eine Krücke angewiesen ist, und ein Freund Unterschlupf. „In guter Nachbarschaft zu Thyssen und Stinnes“, erzählt er und grinst. Dort nahm ein Streetworker des Diakonischen Werkes schließlich Kontakt mit ihm auf und holte ihn um Weihnachten herum ins Warme. Zunächst in die Notschlafstelle, wo sich vier Männer ein Zimmer teilen, dann in die Einzimmerwohnung mit der ersehnten Privatsphäre.

Schuster bezeichnet sein Leben als „Durcheinander“, zeitweise durchaus „lustig“. Gefährliche Situationen habe er nie erlebt, dennoch: „Toll ist es auf der Straße nicht, ich empfehle es keinem.“ Mit Freiheit, wie so mancher denken könne, habe diese Form des Lebens nichts zu tun. „Freiheit ist für mich, eine Bude zu haben, und tun und lassen zu können, was ich will.“ Dass er in der städtischen Immobilie an der Kanalstraße untergekommen ist, sei ein Glück, trotz Toilette auf dem Flur und Dusche im Keller. „Hier habe ich die Möglichkeit, langsam wieder an die Luft zu kommen. Ich möchte noch etwas haben vom Leben.“ Er träumt von der eigenen Wohnung, einem verlässlichen Zuhause.

Seit über 30 Jahren im Einsatz für die Gefährdetenhilfe

Einer, der ihm das von Herzen gönnen würde, ist Peter Sinz. Der 65-Jährige arbeitet seit über 30 Jahren für die Gefährdetenhilfe, in enger Abstimmung mit dem Sozialamt und der Zentralen Wohnungsfachstelle zur Vermeidung von Wohnungsverlusten. Zurzeit wird seine Arbeit nicht nur vom Frost bestimmt, auch Corona ist noch ein Thema. „Wir können die Zimmer nicht so belegen, wie sonst möglich.“ Man müsse entzerren, vorsichtig sein. Und so sind derzeit auch alle zwölf mietfreien Mini-Wohnungen belegt.

Auch die benachbarte Notschlafstelle ist gut besucht. Dort und in den Außenstellen an Gustav- und Hofstraße kommen Männer unter. Für Frauen gibt es Unterkünfte an der Augusta- und der Gustavstraße. Einziehen darf seit Kurzem nur noch, wer einen Corona-Schnelltest mit negativem Ergebnis vorlegt, erklärt Andrea Krause, Leiterin der Ambulanten Gefährdetenhilfe. Eine Krankenschwester kümmert sich darum.

17 Männer und vier Frauen in den Notschlafstellen

Aktuell beherberge man 17 Männer und vier Frauen. Unter freiem Himmel schlafe kaum noch einer, sagt Krause. Sie wisse von fünf Leuten, die noch aus unterschiedlichen Gründen draußen seien. „Einer wird heute noch in die Notschlafstelle einziehen, zwei übernachten am Bahnhof und einer wohl bei einem Freund.“ Ein Mann aber habe entschieden, nach wie vor im Freien zu schlafen, unter einer Brücke. Nur im äußersten Notfall, so macht sie klar, könne man Menschen gegen ihren Willen unterbringen.

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Man stehe mit allen Obdachlosen in Kontakt, versorge sie bei Bedarf mit Kleidung. In der Teestube an der Auerstraße, die im Gegensatz zum ersten Lockdown diesmal offen bleiben durfte, gebe es weiter Frühstück, Mittagessen und Getränke. Geöffnet ist sie montags bis freitags von 8 bis 15 Uhr und an diesem Wochenende auch von 10 bis 14 Uhr. Beim Diakonischen Werk freue man sich immer über Hinweise auf Menschen, die obdachlos sind und bislang vielleicht übersehen wurden: 0208/30 24 50 oder 0170/221 48 87 (Streetworker Lukas Brockmann).

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