Mülheim. Zwischen Mülheim, Polen und der Ukraine wachsen Hilfsbrücken. Auch ukrainische Kinder beladen Laster, weil Männer nicht über die Grenze dürfen.
Zwischen all den grauenvollen Fotos, die der Ukraine-Krieg hervorbringt, gibt es auch anrührende Bilder, die für Hoffnung und Menschlichkeit stehen. Eines hat der in Mülheim lebende Arzt Andrej Kostenko in diesen Tagen geteilt. Es zeigt eine Personengruppe in der ukrainischen Kleinstadt Schowkwa, nahe der Grenze zu Polen. In der Mitte stehen seine Schwiegereltern, Juryy Skaletskiy und Neonila Skaletska, die eigentlich in Kiew zu Hause sind, umgeben von Männern und Jungen, die ein selbst gebasteltes Transparent halten. Zusammengeklebte Din-A4-Blätter, mit dickem Filzstift zweisprachig beschrieben: „Mülheim an der Ruhr! Dankeschön!“
Die Ukrainer tragen warme Winterkleidung, sie stehen vor Stapeln von Paketen. Sie sagen „Dankeschön!“ für wertvolle Hilfslieferungen, die Kostenko, seine Freunde und Mitstreiter gesammelt, organisiert und an den Rand des Kriegsgebietes gebracht haben. Vier Kleintransporter hätten sie schon losgeschickt, berichtet der aus Kiew stammende Intensivmediziner, voll mit Medikamenten und medizinischen Geräten, die in den umkämpften Städten dringend gebraucht werden. An diesem Mittwoch soll der nächste Transport von Mülheim aus starten.
Initiative des Mülheimer Arztes sammelte bislang rund 30.000 Euro an Geldspenden
Seit Kostenko seinen Hilferuf öffentlich gemacht hat, unter anderem bei der Anti-Kriegs-Kundgebung auf dem Mülheimer Rathausmarkt, kommt vielfältige Resonanz, auch aus Nachbarstädten. „Viele Mülheimer Ärzte haben sich gemeldet und viele Privatpersonen“, berichtet der 40-Jährige. Rund 30.000 Euro allein an Geldspenden seien eingegangen, massenhaft Material.
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Auch mit dem Wirt des Restaurants Walkmühle, Sergio Sirik, stehe man in Kontakt. Der Gastronom stammt aus der schwer umkämpften ostukrainischen Millionenstadt Charkiw, hat dort Familienmitglieder und Freunde, die in täglicher Todesangst leben. Sirik stellte eine eigene Hilfsaktion auf die Beine.
Männer dürfen die Ukraine nicht verlassen, Kinder laden Hilfsgüter in Lkw
Große Teile von Kostenkos Familie harren ebenfalls in der Ukraine aus, wollen das Land nicht verlassen. Die Schwiegereltern - der Schwiegervater ist ebenfalls Arzt - organisieren momentan die Aktion an der ukrainisch-polnischen Grenze, wo Sammellager für die Hilfsgüter eingerichtet wurden. Die gemieteten Fahrzeuge parken auf polnischem Boden, schildert Kostenko, auf EU-Seite, und werden dort entladen. „Da männliche Personen zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen, sind dort viele Kinder, die Kartons in Lkw mit ukrainischem Kennzeichen umladen.“ Kinderalltag im Krieg.
Viele Mädchen und Jungen, vom neugeborenen Baby bis zum Teenager, sind aus der Ukraine geflüchtet, meist mit ihren Müttern, schlimmstenfalls alleine. Erschöpft, vielleicht mit ihrem Lieblingsplüschtier im Arm, hängen sie in riesigen Matratzenlagern an der Grenze fest. Frank Schulz, Betriebsratsvorsitzender von Europipe in Mülheim, hat am Wochenende einen Hilfstransport zur polnischen Grenzstadt Przemyśl begleitet: Mit Gewerkschaftskollegen aus verschiedenen NRW-Städten und einem 40-Tonner voller Spenden waren sie unterwegs.
Europipe-Betriebsrat tief betroffen nach Tour an die polnische Grenze
Schulz wirkt von dem, was er erlebt hat, tief betroffen. „Wenn man sieht, wie viele Frauen und Kinder mit ihren Katzen und Hunden da sind und nicht wissen, wie es weitergeht… da sind wir alle von unseren Emotionen übermannt worden.“
Klärendes Gespräch mit der Stadt
„Die Hilfsbereitschaft ist groß“, sagt auch Dr. Stephan von Lackum, Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) in Mülheim, die die Aktion von Andrej Kostenko unterstützt.
Die Sorge der Mülheimer Ärzte gilt aber ebenso den Geflüchteten aus der Ukraine, die teilweise schon in den Praxen behandelt werden.
Nach Kritik niedergelassener Ärzte an mangelnder Kommunikation seitens der Stadt Mülheim habe es am Montag ein „sehr gutes“, klärendes Gespräch mit Sozialdezernentin Dr. Daniela Grobe gegeben, teilte von Lackum mit. „Wir waren sehr unzufrieden“, doch jetzt sollen die Maßnahmen besser koordiniert werden.
Auch Mike Scheffler, Leiter der Wohngemeinschaft für Demenzerkrankte „Haus Noah“, und sein Team haben in Mülheim Spenden gesammelt und diese in die polnische Kleinstadt Nikolaiken geliefert. Dort wurde eine seiner Mitarbeiterinnen geboren, dort kommen zurzeit viele ukrainische Geflüchtete an. 18 Stunden lang waren die Mülheimer mit Transportern unterwegs, die bis zum Dach mit insgesamt sieben Tonnen an Hilfsgütern bepackt waren.
Mülheimer: „Die ganze Stadt hat uns so herzlich empfangen“
In Polen wurden sie bereits von den Bürgerinnen und Bürgern erwartet. Eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft waren alle Spenden sortiert und für den Weitertransport in die Ukraine vorbereitet – dank einer Menschenkette von rund 50 Personen, die mit anpackten. „Die ganze Stadt hat uns so herzlich empfangen. Das ist unbeschreiblich“, sagt Scheffler.
Er und seine Mitarbeitenden verbrachten einen Tag vor Ort in Nikolaiken, das eigentlich vom Tourismus lebt. Die vielen Ferienhäuser stehen allerdings jetzt, außerhalb der Saison, leer. Daher bieten sie nun Geflüchteten aus der Ukraine Schutz. Um die 300 Menschen habe die 8000-Einwohner-Gemeinde bisher aufgenommen, erzählte der ortsansässige Bürgermeister dem Mülheimer Mike Scheffler. „Er hat sich auch ausdrücklich bei allen Menschen aus Mülheim, die gespendet haben, bedankt. Das habe er nie für möglich gehalten“, sagt Scheffler. Sie hätten beschlossen, in Zukunft noch enger zusammenzuarbeiten.
Hilfsbrücke zwischen Mülheim, Polen und der Ukraine geplant
Beim nächsten Mal will Schefflers Team nur noch bis zur deutsch-polnischen Grenze fahren. Dort werden der Bürgermeister und seine Mitarbeitenden auf die Transporter warten, um die Spenden auf direktem Weg zur ukrainischen Grenze zu bringen. „Wir bauen eine Brücke zwischen Mülheim, Polen und der Ukraine“, so Scheffler.
Auf ihn warten im „Haus Noah“ schon wieder zwei volle Container mit Spenden. „Wir erfahren so viel Solidarität in Mülheim. Das ist der Wahnsinn.“ Sein Telefon stehe nicht mehr still, immer wieder fragen Menschen, wie sie helfen können. Allerdings pausiert Scheffler gerade die Annahme weiterer Spenden, in Zukunft wird er nur noch bestimmte Hilfsgüter annehmen – damit die Ukrainerinnen und Ukrainer die Hilfsgüter bekommen, die sie wirklich brauchen.