Mülheim. Long Covid-Schwerstkranken haben Blutwäschen in Mülheim geholfen. Nun warnt der Chef-Neurologe der Essener Uniklinik vor Risiken des Verfahrens.

Die Mülheimer Internistin Dr. Beate Jaeger behandelt Long Covid-Betroffene mit einer speziellen Blutwäsche – und dankbare Patienten schildern eindrucksvolle Verbesserungen nach langer Leidenszeit. Obwohl die Methode noch kaum erforscht ist und Krankenkassen die teuren Behandlungen nicht zahlen, hoffen viele Schwerkranke, dass hier der Durchbruch liegen könnte.

Auch das Medieninteresse ist gewaltig, mehrere Fernsehteams haben in der Praxis an der Wertgasse schon gedreht, erst kürzlich berichtete „Spiegel TV“ über den Ansatz von Dr. Jaeger: „Die ganze Welt pilgert nach Mülheim...“

Mülheimer Internistin in TV-Reportage: „Eine Frau allein auf weiter Flur“

Mehr als 250 Long Covid-Patientinnen und -Patienten hat die Internistin inzwischen ihrer speziellen Therapie unterzogen. Sie sei „furchtbar ausgebucht“, sagt sie dem Reporterteam. Dr. Beate Jaeger behandelt die Kranken mit einem eigentlich altbekannten Verfahren, der HELP-Apherese. Sie setzt hoch dosiertes Heparin ein, um Spike-Proteine zu binden und aus dem Blut zu entfernen. Sie ist überzeugt, dass überflüssige Blutgerinnsel Long Covid auslösen und auf diesem Wege entfernt werden können.

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Mit der Aufmerksamkeit für Dr. Jaegers Methode wächst auch die Kritik daran. Anfangs wollte kaum jemand aus dem Fachkollegenkreis öffentlich Stellung nehmen, „mittlerweile wird sie offen angefeindet“, heißt es im Beitrag von „Spiegel TV“. Sie sei „eine Frau allein auf weiter Flur“ – und dies sei keine beruhigende Nachricht für die Patientenschar.

Chef der Neurologie am Uniklinikum Essen kritisiert die Methode scharf

Zu den Kritikern von Jaegers Ansatz gehört Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen und zugleich Leiter der dortigen Long Covid-Ambulanz. Er nennt die Methode „unsinnig“ und sogar „potenziell gefährlich“.

Der Neurologie-Professor stellt vorweg klar: „Es geht mir nicht darum, eine Kollegin persönlich zu diskreditieren. Aber Frau Dr. Jaeger ist Protagonistin einer Methode, die Schule macht. Und ich finde die Maßnahmen, die sie bei Long Covid anwendet, in keiner Weise erprobt und damit falsch.“ Nicht nur er kritisiere dieses Verfahren, führt Kleinschnitz fort, „sondern in der Community der universitären Schulmedizin ist es mehrheitlich nicht akzeptiert“.

Auch in der Neurologie der Uniklinik Essen würden Blutwäscheverfahren häufig angewendet, betont deren Leiter, etwa 800 Behandlungen gebe es dort pro Jahr. „Wir wissen also, wovon wir reden.“ Bei vielfältigen Indikationen sei das Verfahren sehr wirksam und hilfreich, etwa bei schweren Schüben von Multipler Sklerose (MS). Nicht aber bei Long Covid.

Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, Chef-Neurologe am Essener Uniklinikum, kritisiert scharf den Einsatz von Blutwäscheverfahren bei Long Covid. Er hält die Methode für „falsch“ und sogar für „potenziell gefährlich“.
Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, Chef-Neurologe am Essener Uniklinikum, kritisiert scharf den Einsatz von Blutwäscheverfahren bei Long Covid. Er hält die Methode für „falsch“ und sogar für „potenziell gefährlich“. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Dr. Beate Jaeger geht davon aus, dass entzündliche Moleküle, die in Blutgerinnseln quasi gefangen sind, die quälenden Long Covid-Symptome auslösen. Anhand mikroskopischer Aufnahmen sei dies deutlich zu sehen und in ersten internationalen Forschungsarbeiten bereits beschrieben worden. Bis zu 271 Tage könne sich das Coronavirus vor dem Immunsystem im Körper verstecken und Organschäden verursachen, argumentiert sie. Bis zu zwei Jahre könnten die Symptome anhalten.

Leiter der Long Covid-Ambulanz geht eher von seelischen Ursachen aus

Der Leiter der Essener Long Covid-Ambulanz hält dagegen, dass krankhafte Veränderungen – „die pathophysiologischen Grundlagen von Long Covid“ – noch völlig ungeklärt seien. Das Blutwäscheverfahren sei „ein moderner Aderlass, der davon ausgeht, dass Entzündungsstoffe im Blut oder Blutpfropfen vorhanden sind“. Doch dies sei „aus der Luft gegriffen“ und keineswegs bewiesen. „In unseren Untersuchungen wurden derartige Veränderungen nicht gefunden“, führt Prof. Kleinschnitz fort. „Wir gehen eher davon aus, dass psychologische Vorgänge bei Long Covid eine große Rolle spielen. Ich bin überzeugt, dass die Symptomkombination bei den meisten Patienten eher seelisch erklärbar ist, nicht körperlich.“

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Er kenne auch keine verwandte Erkrankung, „wo eine Therapie, die gegen das Immunsystem gerichtet ist, durchschlagende Effekte hätte“, ergänzt der erfahrene Neurologe. „Ich denke hier beispielsweise an ME/CFS, eine Schwestererkrankung.“

Verfahren ist „potenziell gefährlich“ – Antikörper werden ausgewaschen

Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz hält die Blutwäsche bei Long Covid nicht nur für unsinnig, sondern sogar für riskant. Er sagt: „Besonders kritisch finde ich die potenzielle Gefährlichkeit des Verfahrens, die ich selber als Anwender kenne. In fünf bis zehn Prozent der Fälle gibt es nach der Behandlung Komplikationen, wie Kreislaufprobleme oder Blutdruckabfall, selten auch Infarkte oder Thrombosen.“

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Eine Blutwäsche sei nichts, was man einfach so macht, „und das ist mein Hauptvorwurf: Das ärztliche Grundprinzip, dem Patienten nicht zu schaden, sollte immer ganz oben stehen. Wir wissen auch, dass wir mit diesem Verfahren massiv Antikörper auswaschen. Nach fünf Blutwäschen sind etwa 90 Prozent der Antikörper, die ja gegen Erreger schützen sollen, herausgefiltert.“

Patienten aus Mülheim berichten, dass Effekte nur kurzfristig waren

Weiterer Kritikpunkt von Prof. Dr. Kleinschnitz: Er zweifelt daran, dass die Blutwäsche langfristig wirkt. „Wir hatten in der Long Covid-Ambulanz am UKE drei Patienten aus Mülheim, die dieses Verfahren hinter sich hatten, und die berichtet haben, dass die Effekte nur kurzfristig waren. Die Nachhaltigkeit der Methode ist nicht erwiesen.“ Behandelt würden Schwerkranke mit hohem Leidensdruck, doch es gebe keine Kontrollgruppe. „Es könnte auch ein Placeboeffekt sein. Die Frage ist: Hält die Methode einer breit angelegten klinischen Studie stand?“

Keine plausible Erklärung, kein Allheilmittel

In der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen (UKE), die Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz leitet, befindet sich auch die Long-Covid-Ambulanz.

Seit Herbst 2020 wurden dort rund 500 Erkrankte behandelt, die sehr häufig unter dem Fatigue Syndrom leiden, krankhafter Müdigkeit. Die Wartezeit beträgt aktuell zwei bis drei Monate.

Wie Prof. Kleinschnitz kürzlich in einem Presseinterview darlegte, gibt es nach seiner Erfahrung „für die bunte Mischung an Symptomen keine plausible Erklärung und auch kein Allheilmittel“. Einzelne Long-Covid-Symptome wie Kopfschmerzen oder Schlafprobleme könnten jedoch sehr gut medikamentös behandelt werden.

Auch ein psychosomatischer Ansatz, so Kleinschnitz, zeige gute Erfolge: das Programm „CoPE It“, bei dem Long-Covid-Patienten den Umgang mit belastenden Situationen trainieren. Weitere Informationen gibt es auf der Website des LVR-Klinikums Essen unter www.cope-corona.de.

Nach Aussage von Prof. Christoph Kleinschnitz sind weit über 90 Prozent der Long-Covid-Patienten, die sein Team behandelt, „nach sechs bis zwölf Monaten komplett oder nahezu symptomfrei“.

Die Mülheimer Internistin bemüht sich selber, die Forschungslücke zu schließen – mit Hilfe selbst finanzierter Studien, bei denen sie unter anderem mit dem Max-Planck-Institut für Physik und einem Wissenschaftlerteam der Universität Stellenbosch (Südafrika) zusammenarbeitet.

Dr. Beate Jaeger kennt auch den Ansatz, Long- Covid-Symptome auf seelische Ursachen zurückzuführen – und hält ihn für abwegig. Sie sei „überzeugte Schulmedizinerin“, betonte die Mülheimer Ärztin jüngst noch einmal im Beitrag von „Spiegel TV“, und sie glaube, „dass eine Viruserkrankung, die Organinfarkte verursacht, keine psychische Erkrankung ist“. Viel zu wenige Blutwäsche-Maschinen gibt es auf der Welt, findet Dr. Beate Jaeger.