Mülheim/Duisburg. Nicht nur Corona kann schwere Spätfolgen haben. Marion Jäger (50) wurde pflegebedürftig nach einer Grippe. Ein bislang kaum beachtetes Leiden.
Ein neues Krankheitsbild lässt aufschrecken, neue Begriffe tauchen auf: Long Covid oder Post-Covid-Syndrom. Menschen leiden nach einer Corona-Infektion unter teils massiven Spätfolgen. Auch die Mülheimerin Marion Jäger nimmt diese Berichte wahr – und eine Aufmerksamkeit, die sie selber lange vermisst hat.
Mülheimerin erkrankte schwer nach einer Grippe
Die 50-Jährige sagt: „Postvirale Erkrankungen“, also Krankheiten nach einer Virusinfektion, „gibt es schon lange.“ Sie weiß, wovon sie spricht. Sie ist selber betroffen. Marion Jäger leidet unter Myalgischer Enzephalomyelitis, auch Chronisches Fatigue Syndrom genannt (ME/CFS). Schmerzen, Schwäche, Erschöpfung: Viele Symptome, über die Long-Covid-Betroffene klagen, plagen sie selber.
Auch interessant
In Deutschland seien etwa 300.000 Menschen an ME/CFS erkrankt. Viele Fälle kennt sie aus speziellen Facebook-Gruppen, in denen sich Betroffene austauschen. „Einige werden vollständig bettlägerig. Manche sterben daran.“ Marion Jäger ist ganz sicher, dass es bei ihr an einer Grippeinfektion gelegen hat, vor nunmehr sieben Jahren. „Ich war früher eine energiegeladene Lehrerin“, Sonderpädagogin an einer Grundschule, Beraterin in einem Duisburger Zentrum für Begabungsförderung. Diese Frau hat heute einen Pflegegrad, sie ist schwerbehindert, gilt als unheilbar krank.
„Ich war früher eine energiegeladene Lehrerin“
Die Grippe erwischte die Pädagogin, die bis vor Kurzem mit ihrer Familie in Duisburg gelebt hat, im Februar 2014 und zog sich in kleinen Wellen über Monate. Im August wurde eine Herzmuskelentzündung festgestellt. Nach einer Reha und Wiedereingliederung kehrte sie zurück in den Job. Dass sie kurzatmiger war als früher, schneller erschöpft, spürte sie schon. „Aber die Ärzte haben nichts gefunden, und ich dachte, die Krankheit ist überwunden.“ Im Nachhinein weiß sie: Eine neue Krankheit bahnte sich an.
Schwindel trat auf, diffuse Schmerzen entwickelten sich im ganzen Körper, ihr Blutzuckerspiegel sackte ab. Marion Jäger suchte verschiedene Ärzte auf und begann auf deren Rat hin mit Ausdauersport: Sie ging verstärkt joggen, begann regelmäßig zu schwimmen. „Es hat mir auch sehr viel Spaß gemacht. Aber ein paar Stunden später konnte ich mich auf dem Sofa nicht mal mehr umdrehen, um an mein Handy zu kommen.“ So erschöpfte sie der Sport.
Ärzte rieten zum Ausdauersport
Immer öfter musste sich sich krankmelden, immer weiter trainierte sie, dachte, Sport sei das Richtige. Irgendwann dämmerte ihr: „Es muss was Neurologisches sein.“ Sie hatte schlimme Befürchtungen: MS? Ein Hirntumor?
Ein einwöchiger Aufenthalt in der Düsseldorfer Uniklinik brachte die Diagnose: offiziell Myalgische Enzephalomyelitis. Nach dem Ausschlussverfahren sei dies ermittelt worden, berichtet Marion Jäger. Nachweisen lasse sich ihre Krankheit nicht. Mittlerweile hat sie den Pflegegrad eins und eine bescheinigte Schwerbehinderung. Ihr Leben spielt sich zu Hause ab. Ein bis zwei Minuten könne sie stehen, berichtet die 50-Jährige, den überwiegenden Teil des Tages verbringt sie liegend. Um sich draußen fortzubewegen, ist sie auf einen Elektrorollstuhl angewiesen.
Mit Hilfe einer Pulsuhr dosiert die 50-Jährige ihre Energie
Marion Jägers wichtigste Begleiterin ist ihre Pulsuhr geworden. Mit deren Hilfe dosiert sie ihre Kraft, stellt sicher, dass sie in einem persönlichen Energiekorridor bleibt. Ein krasses Gegenkonzept zum ehrgeizigen Ausdauersport. „Die Pulsuhr“, sagt sie, „bestimmt meinen Alltag. Sie zeigt mir, ob ich Besuch von einer Freundin bekommen kann, und wie lange ich mit ihr reden kann, bevor ich mich wieder hinlegen muss.“ Sie dusche im Sitzen, das Anziehen danach treibt den Puls hoch. „Anschließend ist wieder Bettruhe angesagt.“
Krebs oder Corona-Infektion als Auslöser
Der 12. Mai wird weltweit als „Internationaler Tag des Chronischen Erschöpfungssyndroms Fatigue“ begangen, um über die Krankheit zu informieren.
Besonders auch Krebskranke sind davon betroffen, sehr häufig nach einer Chemotherapie.
Im Februar gab es eine Online-Ärztefortbildung zur Krankheit ME/CFS, organisiert von der Berliner Charité und der Technischen Universität München. Ein Programmpunkt war Covid als Auslöser des chronischen Erschöpfungssyndroms.
Zu den rund 500 Teilnehmenden der ausgebuchten Fortbildung gehörte die Duisburger Hausärztin Dr. Simone Bruns.
Sie sagt: „Die Krankheitsbilder Long Covid und ME/CFS sind ziemlich identisch.“ Die Zahl der Fälle werde durch die Corona-Pandemie wohl drastisch ansteigen.
Mögliche Aktivitäten seien überschaubar: Hörbücher, gelegentlich Zeichnen. „Meine Gitarre muss schon seit einigen Monaten auf mich warten“, berichtet Marion Jäger. Armbewegungen, kombiniert mit Singen, lösen Pulsalarm aus. Meditation habe sie für sich entdeckt und eine denkbar sanfte Form von Yoga: Liegeyoga. „Zumindest hilft es mir, nicht durchzudrehen.“ Ihre Schilderung klingt dramatisch, gleichwohl meint Marion Jäger, die Krankheit verlaufe bei ihr noch „moderat“. Ihre Familie, vor allem ihr Mann, unterstütze sie sehr.
„Ich warte darauf, dass es eine Behandlung gibt“
Ob sie jemals gesund wird, weiß sie nicht. „Ich warte darauf, dass es irgendwann eine Behandlung gibt.“ Da nun Long Covid stark in den Blickpunkt rückt, hofft Marion Jäger, dass auch die Forschung zu ME/CFS vorangetrieben wird. Obwohl es auch coronatypische Spätfolgen gebe, etwa Atemnot, glaubt sie: „Diese Krankheiten überlappen sich. Und wenn sie falsch behandelt werden, verlaufen sie sehr schwer.“ Sie spricht hier aus eigener, bitterer Erfahrung.