Mülheim. Seit dem Lockdown zocken viele Kinder und Jugendliche deutlich länger. Eine Medien-Sprechstunde soll verzweifelten Mülheimer Eltern nun helfen.
Mit einer neuen Medien-Sprechstunde für Eltern reagiert die Evangelische Beratungsstelle für Erziehungs-, Ehe- und Lebensfragen auf familiäre Konflikte rund ums Thema Computerspiele und Social Media. Wer Ängste oder Sorgen hat, wer dringend Ratschläge für den Umgang mit seinem Kind benötigt, findet dienstags zwischen 9 und 10 Uhr in Einrichtungsleiter Volker Rohse einen Ansprechpartner vom Fach. In der Not einfach zum Telefon greifen, ohne Anmeldung oder sonstige Bürokratie, dazu fordert der Diplom-Psychologe belastete Mütter und Väter auf.
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Sein Team und er wissen aus der täglichen Praxis, wie ungut sich die Situation entwickelt hat und wie schwierig es ist, das Rad zurückzudrehen. „Wir bekommen deutlich mehr Anfragen deswegen, und in der Familien-Beratung ist es immer häufiger das zentrale Thema“, berichtet Rohse.
Studie der DAK zeigt: Der Corona-Lockdown hat das Problem extrem verschärft
Zahlen aus dem Jahr 2020 bestätigen die Beobachtung: Einer Studie der Krankenkasse DAK zufolge hat sich das Problem durch den Corona-Lockdown extrem verschärft. Werktags verbrachten die isolierten Kinder und Jugendlichen rund 75 Prozent mehr Zeit mit dem so genannten Zocken als vor der Pandemie. Im Schnitt addierte sich die Gaming-Zeit auf 138 Minuten pro Tag.
Und auch die Nutzung sozialer Netzwerke stieg werktags um gut 66 Prozent – auf rund 192 Minuten täglich bei Facebook und Co.
Seit rund 20 Jahren beschäftigt sich Familientherapeut Rohse mit dem Phänomen
Seit rund 20 Jahren beschäftigt sich der Familientherapeut mit dem Phänomen. „Schon Anfang 2000 sind Eltern zu mir gekommen, die nicht mehr weiter wussten, weil ihre 16- bis 18-Jährigen exzessiv ,World of Warcraft’ spielten. Und extrem aggressiv wurden, wenn man den Stecker ziehen wollte.“
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Seither mache er sich Gedanken darüber, wie Familien frühzeitig einen gesunden Umgang mit PC und Internet erlernen können. Rohse fängt im Kindergarten an, lädt regelmäßig zu Elternabenden unter der Überschrift „Frühkindliche Medienerziehung“ ein. Und erklärt etwa, warum es nicht ideal ist, wenn schon Anderthalbjährige mit dem Smartphone hantieren. „Kinder wollen immer mehr. Wenn man eine Tür aufstößt, wollen sie bald durch die nächste gehen. Wenn sie Fotos ansehen dürfen, werden sie absehbar nach Videos verlangen. . .“
„Machen Sie alternative Angebote: Schwimmen gehen, Kastanien sammeln oder so was“
Auch Kita-Kinder hängen seit Corona deutlich mehr über Tablets oder Handys. Der 50-Jährige mag das niemandem vorwerfen: „Die Situation im Lockdown war schwierig. Die Eltern mussten weiter Geld verdienen, die Großeltern fielen als Betreuer weg.“ Da sei es verständlich gewesen, „dass manche Kinder vorm Tablet geparkt wurden“. Eltern, die nun Schwierigkeiten haben, Kinder wieder für andere Dinge zu begeistern, rät Rohse: „Machen Sie alternative Angebote: Schwimmen gehen, Kastanien sammeln oder so etwas.“ Wichtig sei es, dass die Kleinen aktiv werden. „Das ist das, was sie eigentlich wollen: Zeit mit anderen verbringen, gemeinsam spielen, vorgelesen bekommen, das Leben entdecken.“
Wichtig sei eine klare, verlässliche Struktur – „zum Beispiel jeden Tag nur eine Folge einer Serie“. Und außerdem ein gutes Vorbild: „Wer sagt, Handys sind schlecht, aber selbst die ganze Zeit damit beschäftigt ist, ist wenig glaubwürdig.“
Mediennutzung hat sich durch den Distanzunterricht „etabliert und legitimiert“
Bei etwas älteren Mädchen und Jungen habe sich die Mediennutzung durch den Distanzunterricht „etabliert und legitimiert“. Die Grenzen zwischen Notwendigem und reinem Privatvergnügen seien verschwommen. „Nun finden die Kinder es normal, viele Stunden am Computer zu sitzen.“ Einen Ausweg sieht Rohse in regelmäßigen, zugewandten Gesprächen und gemeinsamen Aktivitäten. „Eltern sollten überlegen, wo ihre Kinder anknüpfen können, was sich an aktivem sozialen Leben anbietet: Sport, Musik, Pfadfinder. . .“ Wichtig sei auch, sich der Faszination Computer nicht zu verschließen, sich von den Kindern erklären zu lassen, warum genau sie etwas spannend finden. Eine gute Bindung könne vielen Problemen vorbeugen.
Kinder leiden unter Ängsten und depressiven Verstimmungen
Laut der DAK-Studie ist „das Gaming-Verhalten“ bei rund 700.000 Kindern und Jugendlichen „riskant oder pathologisch“. Doch Eltern machen sich seit Corona nicht nur Sorgen um Mediensucht, weiß Volker Rohse. „Deutlich mehr Kinder als früher leiden unter Ängsten und depressiven Verstimmungen.“ Sie seien verunsichert, weil Strukturen weggefallen sind. Es falle ihnen schwer, soziale Kontakte zu knüpfen oder auch einfach nur jeden Morgen in die Schule zu gehen.
Das Büro der Evangelischen Beratungsstelle für Erziehungs-, Ehe- und Lebensfragen liegt am Hagdorn 23 und ist zu erreichen unter 0208-32014. Die Beratung ist kostenfrei; Spenden werden gerne entgegengenommen. Weitere Informationen gibt es im Netz unter beratung.kirche-muelheim.de.
Teenager sind die dritte Gruppe, die Rohse im Blick hat. „Bei ihnen besteht die Gefahr, dass sie sich völlig in die Medienwelt zurückziehen, sich abkapseln, vor sozialer Verantwortung fliehen.“ Genaues Hinschauen helfe da, und auch Fragen wie diese: „Wozu ist das gut, was mein Kind da gerade macht, welchem Zweck dient es?“ Als Ausgleich nach Schule und Sport seien „ein, zwei Stunden Zocken durchaus in Ordnung“, vor allem, wenn andere Jugendlichen mitmachen.
Eltern sollten in jedem Fall versuchen, die Beziehung zum Kind zu stärken – „falls es aber in Richtung Sucht geht, sollten sie sich Hilfe holen, zum Beispiel bei einer Medienambulanz“.
Rohse nennt drei Alarmzeichen für eine Computersucht
Alarmzeichen seien diese: „Kontrollverlust, also die Unfähigkeit, mit dem Spielen aufzuhören; Priorisierung, also die Entscheidung, alle andere Themen hintenan zu stellen; negative Konsequenzen, also etwa schlechtere Schulnoten oder das Zerbrechen von Freundschaften“.
Damit es so weit nicht kommt, bietet Rohse die Sprechstunde an. Beim kurzen Telefonat muss es übrigens nicht bleiben; wer mehr Beratungsbedarf hat, kann auch langfristig vom Team unterstützt werden.