Mülheim. In Mülheimer Arztpraxen lagern viele hundert Dosen Astrazeneca. Ärzte wollen den Impfstoff nicht vernichten. Praxen haben keine Rückgabe-Option.

Was geschieht mit den Impfdosen, die bisher nicht verimpft wurden? Wegen ursprünglich geplanter Zweitimpfungen lagert in etlichen Mülheimer Praxen noch reichlich Astrazeneca. Das Haltbarkeitsdatum läuft absehbar ab. Das Impfzentrum kann den nicht benötigten Covid-19-Impfstoff an das Land NRW zurückgeben, aber für die Praxen gibt es keine Lösung. Den Impfstoff zu vernichten, kann doch keine Option sein, sagen die niedergelassenen Ärzte.

Einer davon ist der Hausarzt Uwe Brock aus der Gemeinschaftspraxis Hausärzte Ruhrquartier. Rund 240 Dosen Astrazeneca, ursprünglich vorgesehen für die Zweitimpfungen, lagern im Kühlschrank der großen Praxis mit vier Medizinern. Verfallsdatum: November. Der Impfstoff wurde bestellt, bevor von der Ständigen Impfkommission (Stiko) die Kreuzimpfung (heterologes Impfschema) mit einem mRNA- Impfstoff empfohlen wurde. Gern hätte sich Brock der Oberhausener Initiative angeschlossen: Dort wollte der Krisenstab der Stadt rund 2000 Dosen Astrazeneca und Johnson & Johnson an medizinische Einrichtungen im ostafrikanischen Tansania bringen.

Mülheimer Ärzte hätten sich gern einer Impfstoff-Spendenaktion angeschlossen

Doch das ist vertraglich untersagt: Der Impfstoff gehört dem Bund, Weitergabe an Dritte ist ausgeschlossen. Auch an Privatpersonen. Denn der Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigung in Oberhausen hatte sogar den Kauf der überschüssigen Impfdosen angeboten. „Das hätte ich auch gemacht“, zeigt Hausarzt Brock seine volle Unterstützung und betont: „Es gibt doch eine ethische, moralische und ärztliche Verpflichtung, den Impfstoff an die Ärmsten weiterzugeben.“

Die Mülheimer Frauenärztin Dr. Eva Niedziella-Rech sieht das ähnlich. Auch in ihrer Gemeinschaftspraxis mit vier Gynäkologinnen lagern noch rund 100 Dosen Astrazeneca im Kühlschrank, noch sechs Wochen ist der Impfstoff haltbar. Die Dosen waren bestellt worden, bevor die Stiko ihre Kreuzimpfungs-Empfehlung herausgab: Nach einer Erstimpfung mit Astrazeneca sei die zweite Impfung mit Biontech/Moderna zu geben, weil dies laut Studienlage besonders guten Schutz verspricht.

Die Impfmüdigkeit in den Mülheimer Praxen ist nicht zu übersehen

Doch auch für Biontech müssen die Frauenärztinnen inzwischen Werbung machen: Sie fragen öfter nach, ob wohl noch jemand im Bekanntenkreis eine Impfung benötigt. Die Impfmüdigkeit sei nicht zu übersehen: „Wir haben hier kaum noch Erstimpfungen.“ Bisher musste zwar noch kein Biontech-Impfstoff vernichtet werden. „Doch dazu wird es in den nächsten zwei Wochen kommen“, befürchtet sie.

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Laut Erlass dürfen die niedergelassenen Ärzte übrig gebliebenen Impfstoff zwar an das Impfzentrum abgeben – aber auch nur, wenn dort noch Bedarf bestehe, so Thomas Franke, einer der Leitenden Impfärzte in Mülheim. „Unsere Kühlschränke sind aber voll“, sagt er – mit unter anderem rund 1600 Impfdosen Astrazeneca. Das Land NRW, das die Impfzentren direkt beliefert, „nimmt alles an Impfstoffen zurück, was länger haltbar ist als zwei Wochen“, so Franke.

Einen Mehrfach-Transport des Impfstoffes sehen Pharmazeuten kritisch

Die Praxen vor Ort bekommen den bestellten Impfstoff von ihrem lokalen Apotheker, der bekommt ihn vom Großhandel und dieser wird direkt vom Bund beliefert. „Eine Rückgabe ist dabei nicht vorgesehen“, betont auch Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbandes Nordrhein. Der Mülheimer Apotheker Patrick Marx wird seit Wochen von den Ärzten wegen einer Rücknahme angesprochen, was ja nun aber gar nicht geregelt ist. Man müsse, sagt Marx, hier ja auch den Aufwand sehen.

Haus- und Fachärzte appellieren: Jetzt impfen lassen!

Hausarzt Uwe Brock appelliert auch über Facebook an die Mülheimer, sich endlich impfen zu lassen. „Die Entscheidung gegen die Impfung wird zu hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Entscheidung für die Erkrankung“, heißt es da. Noch gebe es täglich viele freie Impftermine in der Ruhrquartier-Praxis. Ab dem 1. September würden diese Termine reduziert wegen der Drittimpfungen für die Senioren und dem Start der Grippeschutzimpfung.

Die Gynäkologin Eva Niedziella-Rech vermisst eine allgemeine Impfempfehlung auch für Schwangere. „Ich empfehle die Impfung ab der 18. Woche“, sagt sie, die im Gespräch mit den Patientinnen auch dies anspricht: Werdende Mütter würden ihre Antikörper an ihre ungeborenen Kinder weitergeben, auch diese seien dann gut geschützt. Schwangere hätten zudem ein größeres Risiko, nach einer Covid-19-Infektion schwer zu erkranken.

Thomas Preis hält einen mehrfachen Transport hin und her schon aus Qualitätsgründen für nicht empfehlenswert. Der Apotheker Preis hofft, dass die Hersteller den Corona-Impfstoff künftig auch in Einzeldosen anbieten, wie es etwa auch beim Grippeimpfstoff der Fall sei. Die Corona-Impfstoffe werden derzeit in Mehrdosenbehältnissen (Vial) geliefert, sie müssen nach dem Öffnen zügig verbraucht werden.

„Abhängig von RKI-Studien könnte möglicherweise eine dritte Impfung mit Astrazeneca als Kreuzimpfung in Betracht gezogen werden“, sagt Hausarzt Uwe Brock. Also nach zweimal Biontech als Drittimpfung einmal Astrazeneca. So könne theoretisch der Schutz gegen Mutanten besser sein, als immer den gleichen Impfstoff bekommen zu haben, meint er. Doch müsse man sich, nachdem die Studienergebnisse vorliegen, dann an die Leitlinien des RKI halten.

Hoffen auf eine neue Entscheidung der Ständigen Impfkommission (Stiko)

Wenn die Stiko grundsätzlich empfehlen würde, dass eine Kreuzimpfung künftig zuerst mit dem Vector-Impfstoff Astrazeneca und dann mit einem mRNA-Impfstoff wie Biontech gemacht werden sollte, wäre das eventuell eine Option für den lagernden Impfstoff, meint auch Eva Niedziella-Rech. Aber auch bei den demnächst anstehenden Drittimpfungen rechnet sie damit, dass „die Leute sich auf Biontech versteifen werden.“

Ein Programm, um den überschüssigen Impfstoff zu sammeln und dann an bedürftige Länder weiterzugeben, würde auch Dr. Niedziella-Rech begrüßen. Oder auch, dass sie den Impfstoff an das Land NRW zurückgeben könnte. „Aber für die Praxen ist ja nichts geplant.“ Für die Drittimpfungen hat sie aber noch einen dringenden Wunsch: „Der formalistische Aufwand muss kleiner werden.“