Mülheim. Beim Corona-Ausbruch im Mülheimer Wohnstift Raadt waren drei Viertel der Bewohner infiziert. Wie die Senioren halfen, die Krise zu überstehen.

Das Evangelische Wohnstift Raadt an der Parsevalstraße ist voll belegt. Insgesamt 104 Menschen leben hier, darunter zwölf Wachkoma-Patienten. Wer jemanden sucht, der eine Corona-Infektion hinter sich hat, muss nicht lange herumfragen. Ein schwerer Ausbruch hat das Haus im Winter heimgesucht. Nach Auskunft des kirchlichen Trägers waren letztlich 76 Bewohner infiziert und 26 der 80 Beschäftigten.

Auch interessant

Auch Ute Bukowski (78) und Anni Langschmidt (91) waren positiv getestet. Die eine sagt: „Richtig krank habe ich mich nicht gefühlt.“ Die andere, ältere: „Ich habe gar nichts gemerkt, bis der Arzt es mir mitteilte.“ Die Frauen hatten Glück. Etliche ihrer pflegebedürftigen, kranken Mitbewohner haben die Covid-19-Infektion nicht überlebt.

Mülheimer Pflegeheim verschweigt, wie viele Bewohner mit Corona verstorben sind

Von wie vielen Bewohnern sie sich verabschieden mussten, möchte die Leitung des Wohnstifts nicht nach außen tragen. Um die Verstorbenen wird getrauert, aber das Haus als Ganzes hat sich augenscheinlich erholt. Hier scheint ein Geist zu herrschen, der stärker ist als Panik, Depression und Verzweiflung. „Wir haben die besten Bewohner“, sagt Carmen Berrischen, Leiterin der Sozialen Betreuung. „Sie haben uns immer wieder aufgemuntert“, sagt die Pflegedienstleiterin Birgit Berlik, die gemeinsam mit Einrichtungsleiter Andreas Rost ein extrem verknapptes Team managen musste.

Pflegedienstleiterin Birgit Berlik und ihr Team mussten im Mülheimer Wohnstift Raadt einen schweren Corona-Ausbruch bewältigen.
Pflegedienstleiterin Birgit Berlik und ihr Team mussten im Mülheimer Wohnstift Raadt einen schweren Corona-Ausbruch bewältigen. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Die alten Leute hätten signalisiert: Wir haben schon so viel überstanden - das überstehen wir auch. Überstunden ohne Ende seien angefallen, sieben Tage pro Woche hätten sie durchgearbeitet, aber am Ende „hat es uns alle zusammengeschweißt“, berichtet Berlik.

Schock und Trauer bei den Angehörigen - aber kein Vorwurf

Den Tiefpunkt hätten sie eigentlich gleich am Anfang erlebt, Ende November. „Wir haben versucht zu verhindern, dass Corona ausbricht“, so die Pflegedienstleiterin. „In dem Moment, wo klar wurde, es ist doch passiert, waren wir fassungslos. Wieso wir?“ Der Ursprung der Infektionskette ließ sich auch im Nachhinein nicht mehr ermitteln. „Die Angehörigen waren mit uns geschockt und traurig“, berichtet Betreuerin Carmen Berrischen. „Aber es kamen überhaupt keine Vorwürfe.“

Ab da hieß es: Strenge Quarantäne, ganze zwei Monate lang. Die Bewohner, viele mit Demenz, durften ihre Zimmer nicht mehr verlassen. Die Mitarbeiter hatten größte Befürchtungen: „Wir haben alle mit dem Schlimmsten gerechnet“, erinnert sich Carmen Berrischen, „Aggression, Weinkrämpfe, Angst. Wir dachten, jetzt laufen wir nur noch hinter den Menschen her. Aber nichts davon ist passiert. Unfassbar. Ein Phänomen.“ Dennoch war es eine Zeit harter Arbeit. Bis zu 15 Mal am Tag hätten sie nach den alten Menschen gesehen.

Die Corona-Isolation hat Spuren hinterlassen

Bewohnerin Ute Bukowski, sonst bei allen Aktivitäten dabei, kommentiert die langen Wochen ohne Ausgang recht trocken: „Endlich konnte ich mal fernsehen, so viel und und was ich wollte. Ich war nicht einsam.“ Dauernd sei auch Personal unterwegs gewesen, ständig habe jemand an die Tür geklopft, um Essen aufs Zimmer zu bringen, um ein bisschen zu reden. „Wir haben gute Gespräche geführt mit dem Pflegepersonal“, meint auch Anni Langschmidt. „Man ist so vertraut miteinander. Wie eine Familie.“

Auch interessant

Und doch hat die Isolation Spuren hinterlassen bei den alten Menschen. Als das Gesundheitsamt Ende Januar endlich die Quarantäne aufhob, die Gänge sich wieder belebten, an den Tischen wieder Leute saßen, da habe man es gemerkt, meint Carmen Berrischen. „Die kognitive Leistung hat bei vielen nachgelassen. Sie waren stiller, langsamer, mussten im Gespräch länger überlegen.“ Das Team habe vier, sechs Wochen gebraucht, um verlorene Fähigkeiten zu reaktivieren. „Jetzt sind wir wieder auf dem Stand.“

Alle Bewohner und Mitarbeiter, die wollten, sind geimpft

Mittlerweile seien auch alle durchgeimpft, berichtet die Pflegedienstleiterin, alle Senioren, Patienten und Mitarbeiter, „alle, die wollten“. Wenn neue Bewohner einziehen, wollen sie folgendes Verfahren praktizieren: Da in einer Ampulle Impfstoff sechs Einzeldosen stecken, werde man warten, bis sechs Personen zusammen sind und dann für die Nachimpfung „das ganze Verfahren erneut ins Rollen bringen“ - die Heimaufsicht kontaktieren, einen Termin suchen...

Leitungswechsel am Uhlenhorst

Der Leiter des Wohnstifts Raadt, Andreas Rost, übernimmt jetzt auch die Leitung des Wohnstifts Uhlenhorst. Dies teilte der Träger beider Heime, die Stiftung Evangelisches Kranken- und Versorgungshaus, am Dienstag mit.

Schwester Gudrun Gross, die das Haus am Uhlenhorst fast 27 Jahre lang geführt hat, ist in den Vorruhestand gegangen.

Pflegedienstleiter Eric Hörnemann, der schon seit 20 Jahren im Wohnstift Uhlenhorst arbeitet, bleibt zweiter Mann.

Andreas Rost leitet nun alle drei evangelischen Altenheime in Mülheim: Er ist auch Chef im Wohnstift Dichterviertel.

Da die allermeisten Heimbewohner geschützt sind, wurden die Besuchsregeln landesweit gelockert: Seit dieser Woche dürfen wieder fünf Personen aus maximal zwei Haushalten kommen. Und es gibt wieder mehr Gruppenangebote im Wohnstift Raadt, die lange nur im kleineren Rahmen möglich waren. Kochen, Backen, Nähen, Kegeln, Treppentraining, Gymnastik. Fragt man die 91-jährige Anni Langschmidt, worauf sie sich als nächstes freut, sagt sie: „Es gibt so vieles, jede Gruppe ist gut.“ Ute Bukowski sagt schlicht und ergreifend: „Ich freue mich, dass alle wieder da sind. Und das Personal gesund.“