Mülheim. Obwohl es offiziell keine Drogentoten in Mülheim gab, war 2020 für Suchtkranke ein sehr hartes Jahr. Die Leiterin der Awo-Drogenhilfe berichtet.

Laut polizeilicher Kriminalitätsstatistik hat es 2020 keinen einzigen Drogentoten in Mülheim gegeben - während 15 Menschen aus der Essener Szene starben. Dennoch musste sich das Team der Awo-Drogenhilfe von zehn Menschen verabschieden. Leiterin Jasmin Sprünken schildert, wie die Corona-Pandemie ihre Arbeit erschwert.

Können Sie bestätigen, dass 2020 niemand in Mülheim aufgrund seines Drogenkonsums gestorben ist?

Tatsächlich sind im vergangenen Jahr sogar zehn unserer Klient*innen verstorben. Soweit mir bekannt ist, fallen in die Kriminalitätsstatistik nur Abhängige die an einer klassischen Überdosis oder in direktem Zusammenhang mit Konsum sterben. Für uns ist aber entscheidend, dass die Menschen in der Regel an den Langzeitfolgen des Drogenkonsums versterben, etwa an COPD, Leberschäden oder Organversagen.

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Haben Sie im vergangenen Jahr Fälle erlebt, wo es sehr knapp war und jemand quasi in letzter Minute gerettet wurde?

Wenn Sie damit meinen, ob jemand akut eine Überdosis hatte und wir reanimieren musste, dann: Nein. Es gab aber mehrfach den Fall, dass es Klient*innen gesundheitlich sehr schlecht ging. Durch den niedrigschwelligen Kontakt im Café Ligt oder durch Streetwork konnten die Betroffenen zum Arzt oder ins Krankenhaus gebracht werden. Die Tatsache, dass niemand an einer Überdosis verstorben ist, hängt sicher auch mit der flächendeckenden Substitution der Heroinabhängigen zusammen. Im Vorjahr wurden 213 unserer Klient*innen mit Methadon oder Polamidon behandelt.

Bisher keine Corona-Ausbrüche in der Mülheimer Drogenszene

Gab es Corona-Infektionen unter den Drogenabhängigen, die ja zu den Risikopatienten gehören?

Bis jetzt waren glücklicher Weise nur sehr wenige unserer Klient*innen Corona-positiv. Bei ihnen wurde die Infektion entweder im Krankenhaus oder in der Haft festgestellt. Es gab also noch keine größeren Ausbreitungen innerhalb der offenen Drogenszene. Das deckt sich übrigens auch mit den Erfahrungen anderer Städte.

Etwas weniger Rauschgiftdelikte

Die Zahl der polizeilich erfassten Drogentoten in Mülheim schwankte seit 2010 immer zwischen drei Menschen (z.B. 2017) und keinem einzigen Fall (2014).

Leicht gesunken ist im Jahr 2020 die Zahl der Rauschgiftdelikte in Mülheim: 477 Taten wurden bekannt, 33 weniger als im Jahr zuvor.

Dabei wurden 409 Tatverdächtige ermittelt, darunter 117 Jugendliche unter 21 Jahren.

In 320 Fällen ging es um Cannabis.

Wie erklären Sie sich das?

Vermutlich wirkt sich die Tatsache aus, dass diese Gruppe eher geschlossen ist und wenig soziale Außenkontakte hat. Allerdings sind wir ja noch lange nicht über den Berg.

Pandemie setzt Suchtkranke sehr unter Stress

Wie betreuen Sie die suchtkranken Menschen unter Corona-Bedingungen?

Grundsätzlich hat die Coronakrise auch unseren Klient*innen sehr zugesetzt. Sie sind immer noch sehr gestresst und verunsichert. Das Wegbrechen des Hilfesystems während des ersten Lockdowns war eine sehr große Belastung. Uns war wichtig, die ganze Zeit über punktuell persönlich und immer telefonisch ansprechbar zu sein und unsere Angebote so schnell wie möglich wieder zu öffnen. Streetworker waren verstärkt im Einsatz.

Jasmin Sprünken leitet das Drogenhilfe-Zentrum
der Awo in Mülheim.
Jasmin Sprünken leitet das Drogenhilfe-Zentrum
der Awo in Mülheim. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Das Café Light als zentrale Anlaufstelle in Mülheim ist längst wieder geöffnet. Wie schützen Sie die Besucher und Ihre Mitarbeiter?

Seit Mitte Mai sind alle Angebote wieder verfügbar - unter Einhaltung der geltenden Hygienebestimmungen. Die Beschaffung von Schutz- und Desinfektionsmaterial gestaltete sich anfangs sehr zeit- und kostenintensiv. Aber sie ist unumgänglich, zumal wir es mit einer Risikogruppe zu tun haben. Besonders die schwerst abhängigen Konsument*innen haben oft gravierende Vorerkrankungen. Nachdem Ende 2020 das Tragen medizinischer Masken im ÖPNV usw. verpflichtend wurde, haben wir sie unseren Klient*innen sofort kostenlos zur Verfügung gestellt.

Viele Besucher des Café Light fühlen sich durch strenge Regeln stigmatisiert

Werden die Corona-Vorschriften im Café Light akzeptiert und beachtet?

Vielen fällt der Besuch im Café schwer, weil sie so viele Regeln einhalten müssen und ständig unter Beobachtung der Mitarbeiter*innen stehen. Sie verstehen das oft nicht, weil sie ja draußen auch in Gruppen zusammenstehen. Dass wir als Einrichtung strengeren Regeln unterliegen, können viele nicht nachvollziehen. Sie beziehen die Regeln auf sich als Abhängige und fühlen sich noch mehr stigmatisiert. Probleme gab es auch beim Thema Entgiftung.

Inwiefern?

Zu Beginn hat mehr als die Hälfte der Kliniken keine Patient*innen zum Entzug aufgenommen. Aktuell nehmen wieder fast alle Kliniken auf, einige jedoch nur Einwohner der eigenen Stadt. Und in unserer Beratungsstelle zeichnet sich ein größerer Zulauf an Berufstätigen ab, die durch Homeoffice, Kurzarbeit usw. sehr belastet sind und angefangen haben zu konsumieren oder wieder rückfällig sind. Das müssen wir im Auge behalten.