Mülheim. Im Coronajahr 2020 wurden die Mülheimer Kinderschützer öfter gerufen, mussten aber seltener eingreifen. Was steckt hinter diesen „Fehlalarmen“?

Schon der erste Lockdown im Frühjahr 2020, die Schließung von Kitas und Schulen, hatte die Kinderschützer auf den Plan gerufen. Sie machten sich Sorgen: Isolation, Existenznöte der Eltern, Wegfall sozialer Kontakte könnten gefährdete Kinder einem erhöhten Risiko aussetzen. Betont wurde aber immer: Wir schauen weiter hin, halten den Kontakt, greifen im Notfall ein. Das Alarmsystem scheint tatsächlich zu funktionieren, wie die Bilanz für 2020 zeigt.

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Um Kindeswohlgefährdung kümmert sich in Mülheim der Kommunale Soziale Dienst. Wenn man sagt, dass das „Jugendamt“ einschreitet, meint man den KSD. Seine Arbeit im Jahr 2020, unter Pandemiebedingungen, hat das Team jetzt in einem Bericht dokumentiert. Er soll am Dienstag im Sozialausschuss präsentiert und diskutiert werden. Er birgt einige Auffälligkeiten.

Verdacht auf Kindeswohlgefährdung: Mülheimer KSD bekam mehr Meldungen

So wurden dem KSD 2020 deutlich mehr Kindeswohlgefährdungen gemeldet als im Vorjahr: 829 gegenüber 790 Verdachtsfällen. Das entspreche „dem bundesweiten Trend der Vorjahre“, erläutert der KSD. Es ist gleichwohl bemerkenswert, da sich gerade auch das Leben der Mülheimer Kinder verstärkt hinter geschlossenen Türen abgespielt hat. Im ersten Lockdown war die Zahl der Hinweise auch zunächst massiv zurückgegangen. Besorgniserregend ruhig war es da aus Sicht der KSD-Mitarbeiter. Nach den Lockerungen kamen aber deutlich mehr Meldungen. Meist ging es um den Verdacht häuslicher Gewalt - er stand in 321 Fällen im Raum.

Dunkelziffer im Lockdown bereitet nach wie vor große Sorgen

Martina Wilinski, Leiterin des KSD, berichtet: „Zum Herbst hin, als Schulen und Kitas geöffnet waren, sind wieder deutlich mehr professionelle Träger auf uns zugekommen und haben entsprechend gemeldet.“ Der Winter stand dann im Zeichen des zweiten, massiven Lockdowns. „Die Dunkelziffer“, so Wilinski, „ist nach wie vor unsere große Sorge.“ Erkennbar wird aber auch, dass Institutionen wie Polizei, Schulen, Kitas oder ärztliche Dienste ihre Frühwarnfunktion etwas weniger wahrnehmen konnten. Insgesamt kamen 527 Meldungen von Institutionen (mehr als 250 allein von der Polizei), während es im Jahr zuvor - bei weniger Meldungen insgesamt - 543 Hinweise waren.

Kind gefährdet? So wird geprüft

Bei der Prüfung, ob ein Kind gefährdet ist, geht der KSD nach einem umfangreichen Meldebogen vor, der viele Faktoren berücksichtigt.

Unter anderem wird auf die Grundversorgung und familiäre Situation des Kindes geschaut.

Anhand einer Skala von 1 (gut) bis 5 (gefährliche Situation) bewerten die KSD-Mitarbeiter etwa die Wohnbedingungen, angemessene Kleidung, altersgemäße Entwicklung, Erkrankungen und Erziehungsverhalten der Eltern sowie Stützsysteme wie Kita, Schule, Sportvereine.

Das gesamte Verfahren bei Kindeswohlgefährdung wird laufend überarbeitet und aktualisiert.

Während der KSD häufiger alarmiert wurde, entdeckte er in den Familien aber seltener riskante Zustände. So wurde in 608 der gemeldeten Fälle - rund 73 Prozent - keine Kindeswohlgefährdung festgestellt. In 221 Fällen waren die Kinder latent oder akut gefährdet, das waren 25 Fälle weniger als 2019. Wie kann man sicher sein, dass dies wirklich „Fehlalarme“ sind? Dass nicht böses Erwachsen droht?

Auch in Corona-Zeiten sind Hausbesuche verpflichtend - mindestens zu zweit

Wenn die Kinderschützer eine Meldung bekommen, „dann lassen zwei, drei Mitarbeiter sofort den Griffel fallen“, versichert die KSD-Leiterin. Beim Verdacht auf Kindeswohlgefährdung - den sogenannten 8a-Verfahren - sind auch in Corona-Zeiten Hausbesuche vorgeschrieben, „das ist unsere Pflicht, auch wenn es nicht immer leicht ist, denn die Wohnungen sind teilweise sehr klein“.

Mindestens zwei Fachleute machen sich einen persönlichen Eindruck von der Lebenssituation. Mindestens drei Fachleute schätzen anschließend das Risiko ein. In 28 Fällen waren die Missstände im vergangenen Jahr so offensichtlich, dass die Kinder sofort aus der Familie genommen wurden.

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Die Zahl der Mülheimer Kinder, die in Obhut genommen wurden, also in ein Kinderheim, eine Wohngruppe oder Pflegefamilie kamen, war im vergangenen Jahr aber wesentlich höher: 2020 betraf dies insgesamt 104 Kinder und Jugendliche, darunter 46 im Alter zwischen 14 und 17.

Etwa ein Fünftel der Betroffenen hat sein Zuhause auf eigenen Wunsch verlassen, weil es dort nicht mehr erträglich war. Sehr häufig sind diese Schutzmaßnahmen nur vorübergehend. Mehr als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen ist inzwischen ins Elternhaus zurückgekehrt. Generell geht die Zahl der Inobhutnahmen in Mülheim aber seit drei Jahren stetig zurück. 114 Fälle waren es 2019.

Notbetreuung an den Schulen: Zuflucht für 27 Kinder

In Corona-Zeiten ist auch die Notbetreuung an den Schulen zu einer unterstützenden Anlaufstelle für gefährdete Kinder geworden. Insgesamt 27 Jungen und Mädchen aus problematischen Verhältnissen wurden im vergangenen Jahr unter Beteiligung des Jugendamtes dort untergebracht, damit sie nicht den ganzen Tag zu Hause sind. „Für Risikofamilien bringt die Notbetreuung eine große Entlastung“, so Martina Wilinski. „Und die Kinder werden in der Schule viel besser gefördert.“