Mülheim. . Kommunaler Sozialer Dienst erhält mehr Hinweise auf Kindeswohlgefährdung. Leiterin Wilinski lobt Netzwerk. Amt nimmt 116 Kinder in Obhut.
Dass Kinder im Elternhaus nicht immer ungefährdet heranwachsen, macht aktuell der Prozess gegen einen Mülheimer (23) deutlich, der sich vor dem Duisburger Landgericht wegen Totschlags verantworten muss. Am Freitag erst hatte der Mann gestanden, die acht Monate alte Tochter seiner Lebensgefährtin getötet zu haben. Zum Glück enden die wenigsten Fälle in einer Tragödie – eingreifen aber muss der Kommunale Soziale Dienst Mülheims regelmäßig. Im vergangenen Jahr nahmen die Mitarbeiter 116 Minderjährige in Obhut. Im Jahr zuvor waren es noch 177 Kinder und Jugendliche gewesen. Höhere Zahlen der Vorjahre aber hatten immer auch etwas mit den vielen jungen, unbegleiteten Flüchtlinge zu tun.
44 besagter 116 Jungen und Mädchen waren jünger als 14 Jahre, alle anderen zwischen 14 und 17 Jahre alt. 50 von ihnen hatten freiwillig Kontakt zum KSD aufgenommen; bei den 66 anderen hatte der Dienst eine akute Gefährdung festgestellt.
„Noch nie so gute gesetzliche Bedingungen“
Das Zahlenwerk ist Martina Wilinski, Leiterin des Kommunalen Sozialen Dienstes (KSD), ebenso bekannt wie viele der dahinter stehenden Schicksale. Seit bald 30 Jahren arbeitet sie bei der Behörde, steht ihr seit 2005 vor. „Und noch nie“, freut sie sich, „hatten wir so gute gesetzliche Bedingungen und ein so gutes Netzwerk mit Polizei, Gerichten, Tageseinrichtungen, Schulen und freien Jugendhilfe-Trägern.“ In Mülheim werde „das Möglichste getan, um das Netz für Kinder in schwierigen Lebenssituationen so engmaschig wie möglich zu gestalten“, sagt die 52-Jährige.
Im Jahr 2018 meldeten deutlich mehr Institutionen als zuvor auffällige Beobachtungen, lobt Wilinski. 722 Meldungen kamen zusammen mit Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung; 2017 waren es noch 647 gewesen, 2014 gar erst 292. 450 dieser Hinweise seien von der Polizei, aus Kitas, Schulen oder von ärztlichen Diensten gekommen, der Rest fast komplett von Privatpersonen. „Wir sind immer auch auf Hinweise von Bürgern angewiesen“ – von Verwandten, Bekannten, Nachbarn, Vereinskameraden oder auch aus der Anonymität heraus. . .
„Wir nehmen jede Meldung ernst, reagieren immer“
Sicher sei: „Wir nehmen jede Meldung ernst, reagieren immer.“ Und die Kollegen wirkten bei den oft schwierigen Entscheidungen auch nie allein: Einschätzungen erfolgten zu dritt, Hausbesuche zu zweit. Von den 722 Meldungen blieben so letztlich 183 Fälle latenter oder akuter Gefährdung übrig. 33 Mal mussten Kinder bei Pflegefamilien oder im Heim untergebracht werden.
Die Sensibilität der Menschen sei überall gewachsen, sagt Wilinski, auch im Amt. Dazu hätten die vielen neuen, zum Teil deutlich rigideren Gesetze beigetragen, die in den vergangenen Jahren erlassen worden sind, darunter das Bundeskinderschutzgesetz von 2012.
Immer erst abwägen, ob ambulante Hilfen reichen
Wird der KSD auf eine Familie aufmerksam und stellen die Mitarbeiter fest, dass tatsächlich Hilfe vonnöten ist, heißt das lang noch nicht, dass ein Kind auch dauerhaft aus der Familie weg muss. Man müsse abwägen, ob ambulante Hilfen reichen, so Wilinski. Ist eine Unterbringung bei einer Pflegefamilie oder im Heim aber tatsächlich erforderlich, sei diese auch oft nur vorübergehend. Die durchschnittliche Inobhutnahme 2018 lag bei 15 Tagen. Je jünger Kinder seien, desto sensibler sei die Sache. Das Familiengericht hat oft das letzte Wort. Auch da laufe die Kooperation gut. „Wir haben super Richter hier, sehr engagiert und geschult für Gespräche mit den Kindern.“
Generell hieße das Ziel, die Familien – zum Beispiel nach einer Therapie – wieder zusammenzuführen. Von den stadtweit 116 in Obhut genommenen Kindern und Jugendlichen konnten so 28 zu ihren Eltern zurückkehren. In 33 Fällen gab es extra Hilfen für die Familien. 55 junge Menschen aber konnten langfristig nicht nach Hause. Bei schweren Problemen wie physischer oder psychischer Gewalt, sexuellem Missbrauch, Verwahrlosung oder ähnlichem sei es besser, Kinder auf Dauer zu schützen. Solche Fälle gehen Wilinski und ihrem Team trotz jahrelanger Erfahrung unter die Haut: „Die meisten haben selbst Kinder. Sie müssen das erstmal bewältigen.“
Jugendamt Gelsenkirchen in der Kritik
Die Familie des getöteten Mädchens war übrigens erst kurz vor der Tat von Gelsenkirchen nach Mülheim gezogen. Das dortige Jugendamt stand in der Kritik; es gab Vorwürfe, die Übergabe sei schlecht abgestimmt worden. Die Staatsanwalt aber hatte keine Anhaltspunkte für ein Behördenversagen.
>> KSD SUCHT SECHS SOZIALARBEITER
Rund 40 Leute sind beim Kommunalen Sozialen Dienst in Mülheim beschäftigt. Nicht alle Stellen sind besetzt, sagt KSD-Leiterin Wilinski. „Aktuell suchen wir noch sechs Sozialarbeiter.“
Die Aufgabe werde immer komplexer, es sei schon von daher schwierig, geeignetes Personal zu finden. „Wir haben auch eine Art Fachkräftemangel.“ Auch die ganz besondere Verantwortung des Amts schrecke manchen ab.
Es sei „immer ein Spagat“, einerseits dem Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder gerecht zu werden, andererseits alles fürs Kindeswohl zu tun. Das vom Gesetz sehr differenziert ausgestaltete Verfahren, nach dem man beim KSD arbeite, helfe aber dabei, beruhigt Wilinski.