Mülheim. Manche Kinder und Jugendliche wollen nicht mehr nach Hause: In Mülheim gab es im Vorjahr 50 solcher Fälle, Soforthilfe ist gefragt.

„Selbstmelder“ heißen sie schlicht im Fachjargon: Kinder und Jugendliche, die auf keinen Fall mehr bei ihren Eltern leben möchten, sich lieber in Einrichtungen unterbringen lassen. 50 solcher Fälle gab es im vergangenen Jahr in Mülheim. Hilferufe ganz unterschiedlicher Art.

Der Kommunale Soziale Dienst (KSD) in Mülheim schreitet ein, wenn es massive Erziehungsprobleme gibt, notfalls werden Mädchen und Jungen in behördliche Obhut genommen. Im Vorjahr geschah dies insgesamt 116 Mal: 66 Kinder wurden aus ihren Familien geholt wegen akuter Gefährdung, 50 weitere auf eigenen Wunsch. Diese Zahl ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.

„Drehtüreffekt“ bei manchen Jugendlichen

Die Statistik erfasst allerdings Fallzahlen, nicht die Personen, erläutert Martina Wilinski, Leiterin des KSD. Meist handelt es

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© funkegrafik nrw | Selina Sielaff

sich um ältere Jugendliche, mit manchen von ihnen hat ihr Team häufiger zu tun, eine Art „Drehtüreffekt“. Wilinski sagt: „Es gibt sechs oder sieben Jugendliche, auch aus anderen Städten, die uns das ganze Jahr über beschäftigen.“ Aber auch Kinder, die gegenüber Lehrern oder anderen Erwachsenen äußern, dass es zu Hause unerträglich ist, gelten als Selbstmelder.

Das Gesetz, so Wilinski, regle hier eindeutig: „Minderjährige können sich ohne Angaben von Gründen von der Jugendhilfe in Obhut nehmen lassen. Wir bringen sie dann nicht nur unter, sondern sind auch für sie verantwortlich.“ Zuständig sind die Behörden am Aufenthaltsort, egal, aus welcher Stadt die Jugendlichen kommen, Ausreißer beispielsweise.

Nachts von der Polizei aufgegriffen

Die KSD-Leiterin beschreibt eine typische Situation: Ältere Jugendliche werden irgendwo in der Innenstadt von der Polizei aufgegriffen, vielleicht haben sie etwas gestohlen oder kaputt gemacht. Sie erklären dann, sie wollen nicht zurück nach Hause gebracht werden oder nicht zurück ins Heim.

In der Regel passiert so etwas außerhalb der normalen Dienstzeiten, in den Abendstunden oder in der Nacht. Einer der KSD-Mitarbeiter hat stets Rufbereitschaft, ein Diensthandy ist rund um die Uhr erreichbar, die Nummer bei der Polizei bekannt. „Es gibt auch Jugendliche, die gehen von sich aus zur Polizei, um sich in Obhut nehmen zu lassen. Wir reagieren dann sofort“ Untergebracht werden sie beispielsweise im Raphaelhaus oder in der Zinkhütte, falls dort ein Platz frei ist.

Zu denjenigen, die das Notfallhandy gelegentlich übernehmen, gehört Pamela Busse, die beim KSD für die Jugendhilfe im Strafverfahren zuständig ist. Sie beobachtet: „Die Unterbringung in Schutzstellen ist immer schwieriger geworden. Einmal habe ich 17 Stellen im gesamten Ruhrgebiet angerufen, keine hat den Jugendlichen aufgenommen.“ Niemand beherbergt

gerne jemanden, der aggressiv ist, vielleicht unter Drogen steht. Zur Aufnahme verpflichtet sind die Notschlafstellen nicht.

Vielfach hat sich die Situation aber wenige Tage später schon wieder entschärft, so die Erfahrung des KSD-Teams, die Jugendlichen wollen und können nach Hause zurück, ambulante Hilfsangebote schließen sich an.

Notschlafstellen sind nicht zur Aufnahme verpflichtet

Es gibt aber auch erschütternde Einzelfälle, bei denen langfristig eine neue Lösung gefunden werden muss. An einen erinnert sich Martina Wilinski noch sehr genau: „Vor Jahren kam ein Mädchen, zehn oder elf Jahre, zu uns und gab an, dass sie von der Partnerin ihres Vaters schwer misshandelt wird. Man muss sich einmal vorstellen, welchen Mut sie aufbringen musste.“ Das Mädchen kam aber nicht mutterseelenallein. Eine Freundin war an ihrer Seite.