Mülheim. Wegen Corona ist der Mülheimer Tschernobyl-Laden dicht. Die Pandemie und die Unruhen in Belarus erschweren die Arbeit. Aufgeben aber gilt nicht.

Inmitten der Corona-Krise Hilfe leisten im durch Proteste und gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei aufgewühlten Weißrussland: Das ist alles andere als einfach. Die Mitarbeiter der Mülheimer Tschernobyl Initiative machen trotzdem weiter – oder gerade deswegen. „Wir werden uns in dieser schwierigen Lage nicht einfach davonschleichen“, verspricht der Vereinsvorsitzende Norbert Flör. „Wir bleiben verlässliche Partner für unsere Freunde.“

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Dabei stehen die Mülheimer vor massiven Problemen. Das fängt an mit dem Tschernobyl-Laden an der Ecke Kohlenkamp/Bachstraße. Der ist wegen der Pandemie seit März 2020 geschlossen. Es ist nicht möglich, dort zu arbeiten und alle Corona-Bestimmungen einzuhalten, erklärt Flör. Ein zweiter Ausgang wäre erforderlich. Möglicherweise wird ein Fenster durch eine weitere Tür ersetzt. „Der Vermieter muss mit dem Bauamt sprechen.“ Normalerweise kommen laut Flör „bis zu 80.000 Euro im Jahr“ durch den Verkauf von gespendetem Trödel zusammen. Nun seien schon mehrere zehntausend Euro Einnahmen für das Hilfsprojekt entfallen. Die Initiative ist mehr denn je auf Spenden angewiesen.

Präsident Alexander Lukaschenko fällt durch eigenartige Empfehlungen auf

Corona ist in Weißrussland ein großes Thema – oder auch nicht. Von Staats wegen werde das Virus totgeschwiegen, sagt Flör. Präsident Alexander Lukaschenko falle höchstens durch eigenartige Empfehlungen auf, habe dem Volk „Wodka, Sauna und Traktorfahren“ nahegelegt.

Die Pandemie fordert unterdessen weitere Opfer. Flör erzählt von einer engen Vertrauten der Mülheimer, die in Minsk tätig war und an Covid 19 gestorben ist. In den Mails und SMS aus der weißrussischen Hauptstadt sei die Todesursache nicht direkt angesprochen worden. „Das Wort Corona nimmt niemand in den Mund; die Botschaft kam verschlüsselt bei uns an.“

Über die Unruhen in Weißrussland wird nur verschlüsselt berichtet

Ähnlich vorsichtig seien die Kontaktpersonen der Initiative – „alles tolle Leute, mit denen wir seit Jahren eng verbandelt sind“ – beim Austausch über die politischen Entwicklungen. Und so ist auch Flör äußerst zurückhaltend. „Wir müssen unsere Leute schützen. Sie dürfen nicht durch uns desavouiert werden. Wir wissen, mit was für Menschen sie es dort zu tun haben und wozu die fähig sind.“

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Von konkreten Personen oder Begebenheiten mag der 74-Jährige daher nicht sprechen. Nur so viel: „Der Unmut ist groß; es gibt eine ganze Menge Widerstand im Land. Das Geschehen ist nicht weit weg, sondern vor ihrer Haustür.“ Dass die Freunde und Bekannten die zum Teil äußerst brutalen Ereignisse genau verfolgten, könne man ihren Andeutungen entnehmen: „Sie schreiben ,Hier ist eine Menge los auf den Straßen’, aber nicht, was genau los ist. . .“

Die Aktion „Ein Schuhkarton voller Hoffnung“ findet ihre Fortsetzung

Es sei gewiss „kein Spaß“, mit all den Herausforderungen zurechtzukommen. „Dass die Situation in Weißrussland nicht gerade auskömmlich ist, wissen wir ja sowieso schon lange“, sagt Flör. Und so müsse die karitative Arbeit einfach weitergehen. Man sei sogar auf Wohlwollen der offiziellen Stellen angewiesen, gefährde sonst die Zusammenarbeit. Im November macht sich aus Mülheim wieder ein Hilfstransport nach Belarus auf den Weg. Die Aktion „Ein Schuhkarton voller Hoffnung“ findet ihre Fortsetzung. Weihnachtspäckchen von Mülheimer Bürgern mit Mut machenden, nützlichen Geschenken werden in Weißrussland verteilt (siehe Infobox).

Weihnachtspakete packen für Kinder und Senioren in Belarus

Wer sich an der Hilfsaktion „Ein Schuhkarton voller Hoffnung“ beteiligen, also ein in Weihnachtspapier eingeschlagenes Päckchen für Weißrussland packen möchte, kann dieses am 11. oder 12. November beim Tschernobyl-Laden, Kohlenkamp 2, abgeben. Da das Geschäft geschlossen ist, baut die Initiative einen Tisch draußen unter dem Vordach auf: jeweils von 11 bis 15 Uhr.

Auch im Lager des Vereins, im Gemeindesaal der früheren Christuskirche, Parsevalstraße 42, können zur selben Zeit Päckchen abgegeben werden. Dort werden sie auch am 14. November, 11 bis 14 Uhr, angenommen.

Nicht größer als ein Herrenschuhkarton sollen die Geschenke sein. Sie sind gedacht für Kinder zwischen sechs und 17 Jahren oder Senioren. Sie sollten beschriftet sein mit „Junge“, „Mädchen“ und dem ungefähren Alter oder „Senior“ bzw. „Seniorin“.

Süßigkeiten und Nüsse können eingepackt werden, Schreibwaren, Spielzeug, Zahnpasta, Haarwaschmittel. Und für die Älteren gern auch Tütensuppen, Fischdosen, Öl, Tee oder Kaffee sowie Kerzen und Pflaster. Mit neuer Unterwäsche, Strümpfen und ähnlichem können die Kartons ausgepolstert werden.

Weitere Informationen - unter anderem zur Lieferung von größeren Privatpaketen - sind erhältlich unter sowie beim Vereinsvorsitzenden Norbert Flör unter 0177 8390623.

Mit dem gleichen 40er-Tonner werden auch andere dringend benötigte Dinge geliefert. Zur Ladung gehört das Mobiliar eines nicht länger betriebenen Restaurants aus Gelsenkirchen. Stabile Stühle und Tische seien begehrt, so Flör. Ein großer Discounter, der namentlich nicht genannt werden will, habe der Initiative verbilligt Handwaschmittel, Waschpulver und Desinfektionsmittel zur Verfügung gestellt.

Die durchschnittliche Rente in Belarus beträgt 60 Euro im Monat

Auch Kleidung für ältere Menschen und Waisen sind an Bord des Lkw. „Die durchschnittliche Rente beträgt 60 Euro im Monat“, erzählt der Vereinsvorsitzende. Das Überleben gelinge vielerorts nur, weil die Leute eine Datsche, also ein Wochenendhäuschen mit Garten, hätten. Dort pflanzen sie eifrig, produzieren eigene Lebensmittel und kochen diese für den Winter ein.

Unterstützt werden auch wieder das Behindertenzentrum in Zhodino sowie der Jugendclub und eine Schule in Dobrin, einem Dorf rund 50 Kilometer entfernt vom 1986 explodierten Tschernobyl-Reaktor. Sportgeräte, Buntstifte, Papier und anderes wurden zusammengetragen – und Desinfektionsmittel. „Es ist vorgeschrieben, dass jede Einrichtung das vorhalten muss. Aber keiner kümmert sich darum, dass man es auch kriegen kann.“

Nadeshda ist das russische Wort für Hoffnung

Geld fließt 2021 auch in das Projekt „Nadeshda“, das es 20 behinderten Kindern ermöglicht, mit Mutter oder Vater für zehn Tage Urlaub zu machen in einem Dorf mit therapeutischen Einrichtungen. „Dahin fließen jedes Jahr zwischen 14.000 und 16.000 Euro.“ Nadeshda ist das russische Wort für Hoffnung.

Mehrfach schon haben Schüler aus Weißrussland auf Einladung der Tschernobyl Initiative Mülheim besucht. Mit dem Fahrrad machten sie sich auf den Weg zu interessanten Orten der Region.
Mehrfach schon haben Schüler aus Weißrussland auf Einladung der Tschernobyl Initiative Mülheim besucht. Mit dem Fahrrad machten sie sich auf den Weg zu interessanten Orten der Region. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Hoffnung braucht man indes, um an den Fortgang eines besonderen Projekts der Tschernobyl Initiative zu glauben. Mehrfach schon haben zwei weißrussische Lehrerinnen mit Schülern die Freunde in Mülheim besucht. So auch in der Adventszeit 2019. Mit dem Fahrrad machten sie sich auf den Weg zu interessanten Orten der Region, besuchten das Haus Ruhrnatur, den Energiedienstleister Medl, das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz in Essen. „Dieses Mal sollte es um Schmutzecken gehen“, erzählt Flör. Das Thema Müll und seine Entsorgung stand auf der Agenda der wissbegierigen Besucher.

Corona vereitelte die Neuauflage des beliebten Austausches

Angekündigt waren diesmal die beiden Lehrerinnen, 14 Jugendliche und zwei Studentinnen. Corona aber vereitelte die Neuauflage des beliebten Austausches. Die Mitglieder des seit 27 Jahren bestehenden Mülheimer Vereins stecken nun ihre ganze Kraft ins Beschaffen von weiterer Hilfe für Belarus. Trotz der Unruhe in dem osteuropäischen Land, trotz Corona und trotz angespannter finanzieller Situation des Vereins – aufgeben will niemand, betont Flör.

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Von Mirco Stodollick

Motivation ziehen die Mitarbeiter auch aus Begebenheiten wie dieser: „Wir sind mit den Schülern einmal nach Köln gefahren, ins EL-DE-Haus.“ Von 1935 bis 1945 war dort der Sitz der Kölner Gestapo, das Gebäude war der Inbegriff der NS-Schreckensherrschaft. „Dieser Besuch hat sie beeindruckt, viel mehr als der Kölner Dom.“ Im Anschluss entspann sich eine Diskussion, in der sie lernten, „dass es in Deutschland ohne Weiteres möglich ist, über Politik zu sprechen, zum Beispiel darüber, wen man wählt“. Die Erfahrung, so offen zu debattieren, habe die Schüler beglückt. „In Weißrussland spricht man so etwas nicht aus. Andernfalls droht mächtig Ärger.“