Mülheim. Mitten im Kommunalwahlkampf tritt der FDP-Frontmann in Mülheim als Anschieber auf: Parteichef Christian Lindner gastierte in der Alten Dreherei.
Vom Schrecken der letzten Kommunalwahl hat sich die FDP in Mülheim sichtlich erholt. Neue Gesichter sind am Start, allen voran OB-Kandidatin Amrei Debatin. Als Anschieber, damit es weiter bergauf geht, hat sie Parteichef Christian Lindner eingeladen. Die Alte Dreherei in Broich erscheint ihr als idealer Ort, um mit Mülheimern über „Wirtschaft im Wandel“ zu diskutieren.
Für Mittwochvormittag, 11.30 Uhr, war die Wahlkampfveranstaltung im Industriedenkmal angesetzt. Eine Zeit, die für bestimmte Berufsgruppen nicht machbar ist. Tatsächlich befanden sich viele ausgesprochen junge Leute und etliche Freiberufler unter den angemeldeten Gästen. Statements örtlicher Unternehmer waren ohnehin eingeplant. FDP-Chef Christian Lindner - weiße Turnschuhe, weißes Polohemd - traf mit Verspätung ein, gab dann aber umso mehr Gas.
Mit seinem Vortrag lieferte Lindner aktuellen Zündstoff für die Debatte. Roter Faden: die Corona-Pandemie mit ihren teils wünschenswerten, teils abschreckenden Auswirkungen. „Unser Land soll nach Corona ein besseres sein“, hofft Lindner. Er lobt vor allem die neu erworbene Flexibilität, wenn es etwa um die Verlegung von Behördengängen in den digitalen Raum oder die Einrichtung des Homeoffice geht.
FDP-Chef Lindner fordert: Nicht nur Schulpflicht für die Kinder, sondern auch Unterrichtspflicht für den Staat
Zugleich verschärft Corona aus Sicht des FDP-Chefs „das größte Gerechtigkeitsproblem in unserer Gesellschaft“, die Defizite im Bildungssystem: „Nirgendwo sonst in Europa prägen die familiäre Herkunft oder der Stadtteil, in dem man geboren wird, so stark den Lebensweg“, meint Lindner. „Wir brauchen nicht nur eine Schulpflicht für die Kinder und Jugendlichen, sondern auch eine Unterrichtspflicht für den Staat.“
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Als teuren Irrtum kritisiert er die sechsmonatige Senkung der Mehrwertsteuer. Für dieses Geld, rechnet Lindner der Mülheimer FDP-Gemeinde vor, könnte man in allen 35.000 Schulen Deutschlands die Toiletten sanieren, sämtliche Schulen mit WLAN und Laptops ausstatten sowie allen bedürftigen Kindern Tablets an die Hand geben. Eine weitere Geldverschwendung in Corona-Zeiten geißelt der Frontmann der Liberalen in Mülheim: „Wer freiwillig in einem Risikogebiet Urlaub macht, sollte nach seiner Rückkehr einen Corona-Test durchführen lassen und ihn aus seinem Reisebudget bezahlen.“
Unternehmer Thomas Müller wünscht sich von neuer Stadtspitze mehr Führungskraft
Ausdrückliche Zustimmung bekam er dafür später von einem der Mülheimer Unternehmer, die die FDP für einen Diskussionsbeitrag eingeladen hatte: Thomas Müller, früher viele Jahre bei der städtischen Wirtschaftsförderung beschäftigt, hat sich mit einem Start-up-Unternehmen selbstständig gemacht. Die von ihm und zwei Mitstreitern gegründete Firma will die Ruhrgebietsstädte „smarter“ machen, intelligenter, digitaler.
Dreiköpfige Ratsfraktion
Die Mülheimer FDP ist bei der Kommunalwahl 2014 geradezu eingebrochen: Mit 5,3 Prozent verlor sie mehr als die Hälfte der Wählerstimmen von zuvor 11,2 Prozent. Immerhin sei dies noch das beste Ergebnis in einer Ruhrgebietsstadt, hatte der Kreisvorsitzende Christian Mangen erklärt. Im Stadtrat ist die FDP aktuell mit drei Mandaten vertreten.
Bei der Landtagswahl 2017 konnten die Freien Demokraten in Mülheim dann über 13,7 Prozent jubeln. Bei der Bundestagswahl erzielten sie sogar 13,9 Prozent.
Müller greift zum Mikro, weil auch er die Kritik von OB-Bewerberin Amrei Debatin teilt: „Mülheim ist seit sechs Jahren stehen geblieben und lebt von seiner Substanz“, meint der Unternehmer. „Wo sind die Visionen?“ Die Gründung der HRW hebt er als positives Beispiel hervor. Es gebe zu wenig Partizipation. „Mülheim ist die Stadt mit den meisten Bürgerbegehren. Warum eigentlich? Ich wünsche mir von der neuen Stadtspitze mehr Führungskraft.“
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Den größten Applaus erntete bei der FDP-Veranstaltung jedoch ein anderer örtlicher Unternehmer: Klaus Hinsken, Geschäftsführer der Elektrotechnik-Firma Wetec mit knapp 100 Beschäftigten. In jüngster Zeit hat er als Investor viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Er will ein Grundstück am Schlippenweg kaufen und dort einen landwirtschaftlichen Forschungsbetrieb aufbauen. Die versammelten Freien Demokraten in der Alten Dreherei beklatschten ihn aber für einen Klassiker. Hinsken sagte: „Dass wir in Mülheim den höchsten Hebesatz der Gewerbesteuer haben, das ist ein Skandal.“
OB-Kandidatin Debatin: Drohnenzentrum auf dem Flughafen wäre ein Alleinstellungsmerkmal
Amrei Debatin hatte gleich zu Beginn der Veranstaltung zentrale Punkte ihres Wahlprogramms als OB-Kandidatin im Kurzdurchlauf präsentiert: Den ÖPNV zukunftsfähig machen mit kleineren Einheiten und umweltschonenden Antriebsformen, Sanierung und Digitalisierung der Schulen, Digitalisierung der Stadtverwaltung, Entwicklung von Gewerbeflächen. Spektakulärster Punkt ist sicherlich die Entwicklung eines Zentrums für Drohnen und Flugtaxis auf dem Flughafengelände. „Das wäre ein Alleinstellungsmerkmal für Mülheim, um Gewerbe in die Stadt zu ziehen“, betonte Debatin beim FDP-Treffen noch einmal.
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Nach Überzeugung von Parteichef Christian Lindner liegen die Chancen der FDP eher bei sozialen Themen. „Viele Leute sind über soziale Fragen erreichbar“, sagt er. Wer hart arbeite, wolle, dass die öffentlichen Schulen in einem guten Zustand sind, dass sein Einkommen nicht so stark besteuert wird. Bei der Landtagswahl 2017 habe die FDP ihre größten Zuwächse durch ehemalige SPD-Wähler erzielt, sagt Christian Lindner, „und ich bin zuversichtlich, dass es bei der Kommunalwahl in Mülheim auch gelingt“.