Herne. „Den Absprung nicht verpassen“: Hernes FDP-Chef sieht das Ampel-Ende nahen, will weniger Sozialstaat und kündigt den Rückzug aus der Politik an.
Die WAZ setzt ihre Interviewreihe mit Vorsitzenden der demokratischen Herner Parteien fort: FDP-Chef Thomas Bloch (49) über den Niedergang der Liberalen, einen Ausstieg aus der Ampel, Sozialpolitik, Hernes Oberbürgermeister und den Zeitpunkt seines Rückzugs aus der Politik.
Ihr Parteichef Christian Lindner hat 2017 seine Absage an eine Jamaika-Koalition so begründet: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Warum ist die FDP zurzeit noch Teil der Bundesregierung?
Thomas Bloch: Ich denke mal, die FDP will sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Das finde ich richtig, doch irgendwann ist der Punkt erreicht, wo es einfach nicht mehr geht. Wenn ich von sieben Positionen fünfeinhalb Positionen gar nicht mehr besetzen und durchsetzen kann, weil sie von Partnern blockiert werden, ist das keine Koalition auf Augenhöhe. Bevor man sich erdrücken lässt, muss man darauf achten, dass man den Zeitpunkt des Absprungs nicht verpasst.
Das heißt: Sie sind als FDP-Mitglied der Meinung, dass die Ampel keine gute Arbeit leistet.
Die Ampel hat stark begonnen, aber sie hat zahlreiche Fehler in der Außen- und Selbstdarstellung gemacht. Es wurde eine Menge aus dem Koalitionsprogramm abgearbeitet, doch am Ende des Tages nimmt die Bevölkerung das nicht wahr. Wenn ich meine Politik nicht darstellen kann und sie nicht wirkt, habe ich etwas falsch gemacht. Diese Selbstreflexion vermisse ich – nicht nur bei SPD und Grünen, sondern auch in den eigenen Reihen. Ein wenig erinnert mich das an die Ära unter Westerwelle und Rösler 2012/13. Sie waren beratungsresistent und bewegten sich nur in ihrer eigenen Blase. Das nehme ich auch heute ein Stück weit in unserer Parteispitze wahr.
Gibt es denn Erfolge der Ampel, die die FDP für sich verbuchen kann?
Ja. Beispielsweise haben wir das unsägliche Heizungsgesetz von Robert Habeck gekippt und damit Schlimmeres verhindert. Oder wir sind auf europäischer Ebene beim Lieferkettengesetz noch einmal reingegrätscht. Ich könne noch weitere Sachen nennen. Ich bin aber auch enttäuscht, dass wir einiges nicht durchsetzen konnten – zum Beispiel die Trennung von Netzbetrieb und Infrastruktur/Schiene. Das war mal ein großes Thema, doch darüber spricht niemand mehr.
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Ich habe heute Morgen vor unserem Interview auf Spiegel Online die Überschrift gelesen: „Wer braucht noch die FDP?“ Ich gebe diese Frage mal an Sie weiter.
Die FDP braucht jeder, der nicht fremdbestimmt sein möchte. Wenn ich mir die Politik anderer Parteien anschaue – ich denke da insbesondere an den Grünen Koalitionspartner -, merke ich: Man hat kein Vertrauen in die Wähler und versucht sie in eine Richtung zu schubsen, von der man als Partei selbst überzeugt ist. Das funktioniert nicht. Ich muss zunächst mal dem mündigen Bürger vertrauen und davon ausgehen, dass die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollen. Für den Fall, dass sie dazu nicht in der Lage sind, haben wir einen fördernden, aber auch fordernden Sozialstaat. Wir sind die Partei, die gegen staatliche Bevormundung und Eingriffe ist. So viel Staat wie nötig, so viel privat wie möglich – das finde ich nach wie vor richtig.
Der Sozialstaat spielt auch in dem angesprochenen Spiegel-Bericht eine Rolle. Es heißt, Christian Lindner denkt über eine Beschneidung des Sozialetats nach, um steigende Ausgaben bei Klimaschutz, Bildung, Infrastruktur und Verteidigung zu finanzieren. Teilen Sie diesen Ansatz?
Man sollte erst einmal die Kernaufgaben des Staates definieren. Wenn ich mir anschaue, wie groß der Sozialetat in den vergangenen Jahren geworden ist, finde ich es richtig, dass wir alles zur Disposition stellen. Ich bin mir sicher, dass es soziale Leistungen gibt, die mal aus gutem Grund oder auch mal aus ideologischen Erwägungen eingeführt wurden, aber gar nicht mehr notwendig sind.
Man könnte ja auch an anderer Stelle ansetzen. Statistiken besagen, dass die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren immer stärker auseinandergegangen ist. Muss man in diesen Krisenzeiten die Reichen nicht viel stärker in die Verantwortung nehmen?
Das ist eine klassische ideologische Diskussion. Meine Partei sagt zu Recht: Menschen mit gutem Einkommen und Vermögen zahlen schon genug Steuern, sie tragen bereits die größte Last. Wenn wir unseren Wohlstand halten wollen, müssen wir das Land komplett auf den Kopf stellen und einfach mal überlegen: Was möchte ich mir leisten? Und wie finanziere ich das? Man muss alles auf den Tisch legen.
Stichwort Schuldenbremse: Die FDP wehrt sich mit Händen und Füßen gegen eine Aufweichung. Zurecht?
Als die Schuldenbremse beschlossen worden ist – ich glaube, das war unter Finanzminister Peer Steinbrück von der SPD -, hatten wir weder Energie- und Coronakrisen noch Kriege in der Ukraine und in Nahost. Wir brauchen eine Schuldenbremse, aber diese Fragen müssen berücksichtigt werden: Wie definiere ich sie? Wo sind Grenzen? Und vor allem: Was erlaube ich mir an Investitionen. Es ist richtig, dass wir unseren Kindern keine Schulden hinterlassen. Aber ich kann unseren Kindern auch keine marode Infrastruktur hinterlassen. Was nutzt es, wenn ich die schwarze Null wie eine Monstranz vor mir hertrage, aber dafür irgendwann keine Eisenbahn mehr fährt und keine Autobahnbrücke mehr in Ordnung ist.
Ich übersetze: Sie gehen damit auf Konfrontationskurs zu Ihrer Parteiführung und Bundestagsfraktion.
Ich stehe zu meiner eigenen Meinung. Ich halte an der Schuldenbremse fest, aber man muss die Parameter schärfen. Man benötigt gesunden Menschenverstand und muss sich von ideologischen Standpunkten trennen. Auch eine liberale Partei muss Positionen überdenken.
Sind Sie mit ihrer Kritik ein Exot in Ihrer Partei oder sprechen Sie damit auch anderen aus der Seele?
Ich könnte Ihnen aus Herne einige benennen, welche in Lohn und Brot stehen, die ebenfalls dieser Meinung sind.
Die Umfragewerte der FDP sind im Keller, die Fünf-Prozent-Hürde wird immer wieder unterschritten. Haben Sie Angst, dass Ihre Partei wie nach der schwarz-gelben Koalition 2009 bis 2013 erneut aus dem Bundestag fliegt?
Die FDP hat nicht vor, wieder eine Sabbat-Periode im Bundestag einzulegen. Ich bin sehr lange dabei und habe schon häufiger das Totenglöckchen läuten hören. Die Lage ist aber sehr ernst, keine Frage. In diesem Jahr stehen prägnante Ereignisse an: die Europawahl am 9. Juni und die Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern.
Da könnte sich der Abwärtstrend ja verfestigen …
Da sind wir wieder bei meinem Eingangsstatement. Spätestens dann wird sich die Partei Gedanken machen müssen, ob sie an der Ampeltreue festhält und sagt: Wir ziehen das durch, koste es, was es wolle, oder ob sie die Notbremse zieht und die Ampel platzen lässt.
Die Notbremse könnte auch auf andere Weise gezogen werden: durch Absetzung des Parteivorsitzenden Christian Lindner.
Die FDP hat das gleiche strukturelle Problem wie die CDU: Die Partei hat neben Christian Lindner wenig Personen aufgebaut, die kurzfristig eine Führungsrolle übernehmen könnten. Mir fällt da eigentlich spontan nur Justizminister Marco Buschmann aus Gelsenkirchen ein.
Von der Hauptstadt ins Ruhrgebiet: Wird denn wenigstens Herne gut regiert?
(lacht) Es ist kein Geheimnis: Ich schätze unseren Oberbürgermeister. Frank Dudda ist ein Macher-Typ, er macht einen guten Job. Ob das in der Konstellation mit der CDU in der Ratskooperation so glücklich ist, lasse ich mal dahingestellt. Er hat in seiner Kernverwaltung ein gutes Team, das macht eine Menge aus. Was noch dazu kommt: Er ist gut vernetzt und überregional bekannt. Er scheut auch keine Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Das finde ich gut.
Haben Sie denn so gar nichts am Herner Oberbürgermeister auszusetzen?
Doch! Dass er uns bei der letzten Kommunalwahl den Fraktionsstatus verhindert hat, weil Herne nicht zuletzt dank Frank Dudda die neue Herzkammer der SPD im Ruhrgebiet ist (lacht). Im Ernst: Es gibt immer mal wieder Sachen, die die FDP anders machen würde.
Welche Duftmarken hat die FDP in den vergangenen Jahren im Rat setzen können?
Wir haben beispielsweise mit Hartnäckigkeit dazu beigetragen, dass Rats-TV eingeführt worden ist. Wir haben das Wanne-Kennzeichen mit auf den Weg gebracht – auch gegen den Willen des damaligen Oberbürgermeisters Horst Schiereck. Das digitale Parken ist ebenfalls auf unserem Mist gewachsen. Und auch beim E-Sport haben wir Impulse gesetzt.
Die FDP ist bei der Kommunalwahl 2020 mit 3,3 Prozent nur als Gruppe, also mit zwei Stadtverordneten in den Herner Rat eingezogen. Treibt Sie die Sorge um, dass Sie nach der Wahl 2025 Einzelkämpfer für die FDP sein werden?
Ach, Herr Christoph … . Mein klares Ziel ist: Ich werde antreten und noch einmal fünf Jahre dranhängen. Danach ist Schluss, ich werde mich zurückziehen. Ich versuche, in diesen fünf Jahren sowohl für den Kreisverband als auch für den Rat jemanden aufzubauen.
Das ist sehr interessant, war aber keine Antwort auf die Frage: Werden Sie ab 2025 Einzelkämpfer für die FDP im Rat sein?
Das glaube ich nicht. Mit rund dreieinhalb Prozent haben wir eine reelle Basis in Herne. Ich strebe natürlich erneut den Fraktionsstatus an, …
Den Einzug in den Rat mit mindestens drei Stadtverordneten.
… aber der Rückenwind aus Berlin wäre dafür wichtig. Daher wäre ich auch froh, wenn wir mindestens den Status quo als Gruppe halten könnten.
Können Sie sich vorstellen, 2025 wie schon 2020 als OB-Kandidat für die FDP anzutreten?
Ich schließe es nicht aus, will mich darauf aber nicht festlegen.
Bei der OB-Wahl 2015, die wegen des großen Beharrungsvermögens von OB Schiereck erst ein Jahr nach der Ratswahl stattfinden konnte, haben FDP, Grüne, Linkspartei, Piraten und Alternative Liste mit dem Grünen Thomas Reinke einen gemeinsamen Kandidaten gegen Frank Dudda aufgestellt. Wäre das auch 2025 denkbar?
Mein Bauchgefühl sagt mir: Solange Frank Dudda in Herne bei der OB-Wahl antritt, wird sich das nicht wiederholen. Wenn Sie später mal einen jüngeren Sozialdemokraten als OB-Kandidaten haben werden, der jetzt – rein spekulativ – eine Runde in Berlin drehen wird, …
Sie dürfen den Namen Hendrik Bollmann ruhig aussprechen.
(lacht) … dann könnte ich mir einen gemeinsamen OB-Kandidaten sehr gut vorstellen.
Schlussrunde: Kubicki, Gendern, Schalke
Richtig oder falsch: Meinen Parteifreund Wolfgang Kubicki kann ich häufig nicht mehr ernst nehmen.
Richtig.
Bei der Oppositionsarbeit der FDP im NRW-Landtag ist noch Luft nach oben?
Richtig.
Viel Luft?
Einiges an Luft.
In der Ukraine-Politik stehe ich zu 100 Prozent hinter Agnes-Maria Strack-Zimmermann.
Falsch.
Sind Sie gegen mehr Waffenlieferungen?
Das ist nicht der Punkt. Wir sind in Deutschland und in Europa sehr inkonsequent. Wenn ich die Ukraine unterstützen will, darf ich nicht nur über ein Waffensystem wie den Taurus diskutieren und mich damit in der Presse lächerlich machen. Sondern: Ich muss generell fordern und dafür sorgen, dass unsere Rüstungsindustrie alles, was geht, an die Ukraine liefert. Das passiert aber leider nicht!
Vorbild Bayern: Gendersprache sollte auch in NRW verboten werden.
Richtig - in Schulen und Behörden.
Mein Lieblingsverein Schalke 04 steigt in die Dritte Liga ab.
Schalke steigt nicht ab!
Zur Person: Für immer Holsterhausen
- Der Herner Thomas Bloch - er lebt seit seiner Geburt mit kurzer Unterbrechung in Holsterhausen - ist seit 1998 Mitglied der FDP. 2004 zog er in den Rat ein, 2011 beerbte er Klaus Füßmann als Vorsitzender der knapp 100 Mitglieder zählenden Herner FDP.
- Der 49-jährige Diplom-Finanzwirt kümmert sich bei der Oberfinanzdirektion NRW um die Ausstattung von Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderung für den Bereich „assistive Technik“. Bloch ist verheiratet und hat einen Hund (West Highland White Terrier).