Herne. Die Linke steht vor der Spaltung. Warum Hernes Parteichef Sahra Wagenknecht rausschmeißen will, wie die Lage vor Ort ist: ein Interview.

Zu sagen, dass die Lage bei der Linken dramatisch ist, wäre noch untertrieben. Hernes Linken-Vorsitzender Patrick Gawliczek spricht im WAZ-Interview über die drohende Spaltung, Sahra Wagenknecht, Asylpolitik, AfD-Wähler und die Situation vor Ort.

Die Linkspartei ist bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern grandios gescheitert, ein Bundesabgeordneter Ihrer Partei ist soeben zur SPD gewechselt, in Bochum ist die Linken-Fraktion jüngst durch den Parteiaustritt von drei Stadtverordneten zerbrochen. Erschüttern Sie solche Meldungen oder ist das Business as usual in Ihrer Partei?

Patrick Gawliczek: Na ja, wir befinden uns in einer Umbruchphase. Es wird vieles zu klären sein, was sicherlich auch mit der bevorstehenden Spaltung zu tun hat. Ich denke zurzeit eher in Richtung Zukunft und frage mich: Wie kann man die Partei neu aufstellen?

Patrick Gawliczek im Interview mit der WAZ im Linken-Büro an der Hauptstraße in Wanne-Eickel.
Patrick Gawliczek im Interview mit der WAZ im Linken-Büro an der Hauptstraße in Wanne-Eickel. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Weil die Gegenwart als Mitglied der Linken nur schwer zu ertragen ist?

Wenn ich auf die Wahlergebnisse schaue, muss ich zugeben: Ich kann alle verstehen, die uns aufgrund unserer Außendarstellung zurzeit nicht wählen. Genau deshalb müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir wieder zu einer wählbaren Alternative werden können.

Ist der Austritt von Sahra Wagenknecht und die Gründung einer neuen Partei nur noch eine Frage der Zeit?

Das hoffe ich doch. Deshalb habe ich auch als einer von 58 Mitgliedern den Antrag an die NRW-Schiedskommission unterschrieben, dass Sahra Wagenknecht aus der Partei ausgeschlossen werden soll. Ein Ausschluss käme aber eigentlich zu spät.

Wie meinen Sie das?

Spätestens mit Beginn des Bundestagswahlkampfs im Jahr 2021 hätte ein solcher Schritt erfolgen sollen. Sahra Wagenknecht ist erst auf die Liste gewählt worden und hat anschließend ein Buch veröffentlicht, in dem sie die Linke stark diskreditiert und mit fast allen linken Werten gebrochen hat.

Sie machen seit Jahren keinen Hehl aus Ihrer Ablehnung von Sahra Wagenknecht. Was werfen Sie ihr vor?

Ich möchte zunächst betonen, dass wir eine pluralistische Partei sind und Platz für unterschiedliche Meinungen haben. Sahra Wagenknecht nutzt jedoch ihre eigene Position, die im Widerspruch zur Parteiposition steht, um sich selbst zu vermarkten. Sie tingelt von Talkshow zu Talkshow, eigentlich immer nur unter der Prämisse, dass sie die Rebell-Linke ist. Sie vertritt jedoch konservative und rechte Positionen oder plappert rechte Narrative nach. Das haben wir auch in der Corona-Krise gesehen, wo sie wissenschaftsfeindliche Thesen von sich gegeben hat. Oder auch in der Geflüchtetenkrise, wo sie das Recht auf Asyl angezweifelt und davon gesprochen hat, dass es sich eigentlich nur um ein „Gastrecht“ handele. Damit steht sie sogar rechts von der CDU.

„Sie tingelt von Talkshow zu Talkshow“: Sahra Wagenknecht in der ZDF-Sendung von Markus Lanz.
„Sie tingelt von Talkshow zu Talkshow“: Sahra Wagenknecht in der ZDF-Sendung von Markus Lanz. © ZDF | Cornelia Lehmann

Wie viele Unterstützung hat Sahra Wagenknecht in der Partei?

Auf den letzten Parteitagen wurde schon sehr deutlich, dass es nur ein marginalisiertes Lager ist. Ich glaube, dass nicht mehr als ein Fünftel aller Mitglieder hinter Sahra Wagenknecht steht.

Und wie sieht es in der Wählerschaft aus? Es gab ja Umfragen, nach denen das Wählerpotenzial einer Wagenknecht-Partei recht groß sein soll.

Ich gehe mal davon aus, dass die Leute, die Sahra Wagenknecht toll finden, uns nicht mehr ihre Stimme geben. Es gibt aber viel, viel mehr Menschen, die uns wegen Sahra Wagenknecht nicht mehr wählen. Deshalb: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Wer soll uns denn noch wählen, wenn gar nicht klar ist, welche Linie die Partei hat.

Gibt es auch in der Herner Linkspartei ein Wagenknecht-Lager?

Zumindest im Kreis der Aktiven, die in den vergangenen Jahren Schweiß und Tränen in die Partei gesteckt haben, gibt es keine Befürworter:innen von Sahra Wagenknecht. Und es sind auch schon aktive Mitglieder wegen Wagenknecht ausgetreten.

Vor der Landtagswahl 2013 besuchte Linken-Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht die Herner WAZ-Redaktion. Rechts: der damalige Vorsitzende Markus Dowe.
Vor der Landtagswahl 2013 besuchte Linken-Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht die Herner WAZ-Redaktion. Rechts: der damalige Vorsitzende Markus Dowe. © Ralph Bodemer / WAZ FotoPool

Ist der Niedergang der Linkspartei allein auf die Person Sahra Wagenknecht zurückzuführen?

Nein, nicht nur. Man muss aber auch sehen: Durch die große Zerstrittenheit in der Partei konnten wir viele Themen gar nicht angehen.

Auch beim Thema Ukraine-Krieg geht ein Riss durch die Partei. Ist das ausschließlich auf den Konflikt mit Sahra Wagenknecht zurückzuführen?

Sahra Wagenknecht betreibt zum Teil eine Täter-Opfer-Umkehr. Bei ihr wirkt es fast so, als wenn die Ukrainer die Bösen wären und allein die USA schuld an diesem Angriffskrieg Russlands sind. Das stimmt einfach nicht. Jenseits vom Wagenknecht-Lager gibt es bei uns aber auch Diskussionen, zum Beispiel zur Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine oder der Sanktionen gegen Russland. Das sind aber alles Punkte, bei dem man sich am Ende auf einige Grundpfeiler einigen könnte.

Wie sehen denn Ihre Grundpfeiler aus? Wo stehen Sie beispielsweise in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine?

Wir haben auf dem letzten Bundesparteitag eine Entscheidung getroffen, bei der wir uns mehrheitlich gegen Waffenlieferungen ausgesprochen haben. Ich akzeptiere das, aber man kann das natürlich auch anders sehen.

Und wie sehen Sie es persönlich?

Ich bin kein Außenpolitik-Experte. Ich vertrete den Kreisverband Herne und möchte solche Dinge lieber nach innen vertreten.

Ich finde, dass man sich als Parteivorsitzender nicht so aus der Verantwortung stehlen kann.

Okay, ich sage es mal so: Ich gehöre zu den Leuten, die Waffenlieferungen an die Ukraine für richtig halten. Ich akzeptiere es aber, in einer Partei zu sein, in der es eine andere Mainstream-Meinung gibt.

Die Linkspartei ist laut Parteitagsbeschluss mehrheitlich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, Hernes Kreisvorsitzender Patrick Gawliczek befürwortet sie. Im Bild: ein Kampfpanzer M1 Abrams bei einer internationalen Militärübung in Bayern.
Die Linkspartei ist laut Parteitagsbeschluss mehrheitlich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, Hernes Kreisvorsitzender Patrick Gawliczek befürwortet sie. Im Bild: ein Kampfpanzer M1 Abrams bei einer internationalen Militärübung in Bayern. © dpa | Armin Weigel

Was sagen Sie zum Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel?

Der Angriff ist unentschuldbar. Das war pure Unmenschlichkeit und hat mit Zivilisation nichts mehr zu tun. Israel hat das Recht, sich zu wehren.

Stichwort Migrationspolitik: Man hat sei einigen Wochen das Gefühl, dass es in Deutschland eine ganz große Koalition für eine noch stärkere Abschottung gegen Geflüchtete gibt. Ist das ein notwendiger Kurswechsel oder eine Reaktion auf das Erstarken der AfD?

Das erinnert mich an den Asylkompromiss in den frühen 90ern. Aufgrund einer stark ins Rechtsextreme gehenden Stimmungsmache – unter anderem von der Bild-Zeitung – ist die Stimmung damals derart gekippt, dass man die Menschenrechte mit Füßen getreten hat. Und wenn heute selbst die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang Bundesinnenministerin Nancy Faeser dazu aufruft, mehr „Rückführungen“ durchzuführen, was ja ein Euphemismus für Abschiebungen ist, dann kann das einfach nichts so weitergehen. Ich bin schockiert, dass selbst die Grünen diesen Kurs mitmachen. Deshalb braucht es auch eine starke Linke in Deutschland. Über Menschenrechte möchte ich nicht verhandeln.

Was entgegen Sie den Verantwortlichen in Städten und Landkreisen, wenn diese Alarm schlagen und darauf hinweisen, dass die Kapazitäten zur Aufnahme und zur Integration von Geflüchteten erschöpft sind?

Das eigentliche Problem ist ja nicht, dass die Unterkünfte in Deutschland aus allen Nähten platzen und Geflüchtete auf der Straße leben müssen. Das Problem ist: Die Kommunen sind unterfinanziert. Sie bekommen Aufgaben vom Bund aufgebürdet, ohne dafür die notwendigen Mittel zu erhalten. Wenn man die Kommunen besser ausstattet, würde man den Rechten auch die Argumente nehmen, mit denen sie Propaganda machen. Und es gibt ja noch einen weiteren Punkt.

Nämlich?

Wenn man sich den demografischen Wandel in Deutschland anschaut, wird klar, dass zur Aufrechterhaltung unserer Rentenkassen und unseres Sozialversicherungssystems eigentlich eine Netto-Zuwanderung im hohen sechsstelligen Bereich sinnvoll wäre. Deshalb sollte man lieber darüber nachdenken, wie wir Menschen qualifizieren, die schutzsuchend zu uns kommen.

Hat Sie der relativ große Zuspruch für die AfD bei den Landtagswahlen überrascht?

Überrascht nicht, aber schockiert. Wir sehen zurzeit einen unglaublichen Rechtsruck in unserer Gesellschaft, der medial von den Sozialen Medien, aber auch durch den Axel-Springer-Verlag immer weiter befeuert wird - zum Beispiel durch Fake-News-Kampagnen beim Heizungsgesetz.

Haben Sie Verständnis dafür, wenn Wählerinnen und Wähler sagen, dass sie aus Protest die AfD wählen?

Nein. Die AfD ist eine rechtsextreme Partei. Es ist ja auch nicht entscheidend, ob die NSDAP 1933 aus Protest oder Überzeugung gewählt worden ist. Das Ergebnis kommt aufs Gleiche raus.

Blicken wir mal auf Herne: Wie würden Sie den derzeitigen Zustand des Linken-Kreisverbandes beschreiben?

Nicht katastrophal, aber auch nicht gerade rosig. Das hat viel mit dem Bundestrend zu tun, der zu einer Art Lethargie geführt hat. Diesen Zustand können wir aber überwinden. Wir spüren alle, dass eine linke Kraft gebraucht wird.

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Warum?

Die Rezepte zur Bekämpfung der Inflation sind beispielsweise alles andere als gerecht. Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen sind die Leidtragenden der Krise, während Energiekonzerne Milliardengewinne machen und Familien wie Klatten oder Quandt immer reicher werden. Wenn die Partei sich aufrappelt und wieder in Fahrt kommt, werden wir auch in Herne einen Mitgliederzuwachs haben.

Die Linke hat bei der Kommunalwahl 2020 einen Generationswechsel verpasst: Ihre Fraktion ist die mit Abstand älteste im Rat. War die Listenaufstellung ein Fehler?

Vielleicht war es ein Fehler, dass wir so wenig Stimmen bekommen haben (lacht). Im Ernst: Wir haben mit mehr Mandaten gerechnet und haben uns verschätzt. Also war das ein Fehler.

Bekommen Sie denn 2025 einen Generationswechsel hin? Ihre Personaldecke ist ja bei etwas mehr als 60 Mitgliedern recht dünn.

Wir müssen intern noch darüber nachdenken, wie wir uns aufstellen wollen. Es gibt zum Beispiel die Überlegung, mit einer offenen Liste anzutreten und mal in die Herner Stadtgesellschaft zu fragen, ob es junge und progressive Menschen gibt, die Themen wie Soziales oder Umwelt besetzen wollen.

Sie sind derzeit Bezirksverordneter in Sodingen. Können Sie sich vorstellen, 2025 in den Rat zu wechseln?

Ich bin eher ein Mensch, der von Kandidaturen überzeugt werden muss. Für den Rat wird man mich aber wohl nicht überzeugen können …

Eine Kandidatur für den Rat bei der Kommunalwahl 2025 kann sich Patrick Gawliczek eher nicht vorstellen.
Eine Kandidatur für den Rat bei der Kommunalwahl 2025 kann sich Patrick Gawliczek eher nicht vorstellen. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

2025 finden die Bundestagswahl und die Kommunalwahl statt. Wagen Sie für Ihre Partei eine Prognose über den Ausgang?

Ich habe keine Glaskugel, aber ich glaube, dass diese Frage sich innerhalb der nächsten sechs Monate entscheiden kann. Es wird sich zeigen, ob wir eine moderne linke Partei aufstellen können, die die Fragen der Zeit so beantwortet, dass wir eine Alternative zum Kapitalismus bieten oder ob wir in der Lethargie hängenbleiben und am Ende in der Versenkung verschwinden.

>>> Zur Person: Seit 2018 an der Parteispitze

  • Patrick Gawliczek (30) ist gebürtiger Horsthauser und lebt zurzeit in Baukau. Er studiert Physik an der Ruhr-Universität Bochum.
  • Die Linkspartei führt er seit 2018 - inzwischen wieder alleine: Die 2022 zur Co-Vorsitzenden gewählte Rosa Mühlstrasser ist vor Monaten aus Herne weggezogen.
  • Gawliczek gehört seit 2020 der Bezirksvertretung Sodingen an und ist für die Linkspartei Mitglied im Ausschuss für Bürgerbeteiligung, Sicherheit und Ordnung.