Herne. Eigentlich wollte ein Herner Familienunternehmen auf dem Gelände von Herner Glas neu bauen. Das Projekt ist gestoppt, das sind die Gründe.

Die ersten Überlegungen begannen bereits 2020, in den vergangenen Monaten wurden die Pläne immer konkreter. Doch vor wenigen Tagen hat das Herner Unternehmen Reifen Stiebling die Notbremse gezogen und sein Neubauprojekt gestoppt.

Stiebling wird auf dem ehemaligen Gelände von Herner Glas am Trimbuschhof keine neue, größere Produktion für runderneuerte Lkw-Reifen bauen. Die offizielle Absage ist inzwischen bei der Stadt Herne und der Wirtschaftsförderung eingetroffen. Vielmehr noch: Angesichts der Rahmenbedingungen zittert das Familienunternehmen mittelfristig um die Zukunftsfähigkeit des Produkts, was seit Jahrzehnten das Herzstück von Reifen Stiebling bildet.

Weniger Energie- und Rohstoffverbrauch als bei neuen Lkw-Reifen

Dabei sei ein runderneuerter Reifen ein hochgradig nachhaltiges Produkt, so Juniorchef Alexander Stiebling. „Dadurch, dass wir Lkw-Reifen quasi ein zweites Leben geben, sind sie ein Paradebeispiel für Wiederverwertung.“ Im Vergleich zur Produktion von Neureifen liege der Energiebedarf bei einem Reifen wie dem „Malocher“ aus der Herner Produktion nur bei der Hälfte, bei Wasser würden sogar 80 Prozent eingespart, bei Rohöl 70 Prozent. Auch würden rund 50 Kilogramm weniger Rohstoffe benötigt, die CO2-Emissionen lägen um 30 Prozent niedriger, zumal Stiebling sich den Strom aus der eigenen Photovoltaik-Anlage zieht. Und: Ein runderneuerter Reifen aus dem Werk in Herne sei einem Neureifen in Qualität und Laufleistung ebenbürtig, so Stiebling.

Blick auf die Produktion der runderneuerten Lkw-Reifen.
Blick auf die Produktion der runderneuerten Lkw-Reifen. © Börge Brauer

Was ist also der Grund für den Rückzieher? Darauf gibt es laut Stiebling mehrere Antworten: Eine ist Billigware aus Fernost, die auf Grund niedrigerer Energiekosten und fehlender Zölle deutlich günstiger angeboten werden könne als die nachhaltigen Reifen made in Herne. Der jüngste Bremsklotz ist die Erhöhung der Lkw-Maut. Die sei ohne große Vorbereitungszeit am 1. Dezember in Kraft getreten, so Seniorchef Christian Stiebling. Deutschland setzt bereits jetzt eine EU-Richtlinie um, die die Einführung einer CO2-abhängigen Maut vorsieht. Verschiedene Branchenverbände haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Umsetzung nahezu eine Verdoppelung der Mautsätze bedeute. Das habe indirekt Auswirkungen auf die Runderneuerung, so Stiebling. Um wegen der drastisch gestiegenen Mautkosten zu sparen, würden Spediteure mit steigender Tendenz nicht mehr zu runderneuerten Reifen greifen, sondern zu der Billigware aus Fernost.

Forderung nach Mindestquote bei öffentlichen Ausschreibungen

Dass die Billigware auf den Autobahnen rolle, widerspreche eigentlich dem Nachhaltigkeitsgedanken der neuen Mautregeln. Denn dabei handele es sich um sogenannte Einmal-Reifen, die aufgrund minderwertiger Materialien und fehlendem Know-how im Produktionsprozess eben nicht runderneuerbar seien. Welche Einsparpotenziale in der Runderneuerung schlummern, verdeutlichte Junior-Chef Alexander Stiebling dem SPD-Fraktionsvorsitzenden im NRW-Landtag Jochen Ott und dem Herner Landtagsabgeordneten Alexander Vogt bei deren Besuch am Stiebling-Stammsitz anhand des selbst produzierten Reifens mit der Bezeichnung Malocher.

Jochen Ott, SPD-Fraktionsvorsitzender im NRW-Landtag (M.), und der Herner Landtagsabgeordnete Alexander Vogt (r.) lassen sich die Produktion von runderneuerten Reifen erläutern.
Jochen Ott, SPD-Fraktionsvorsitzender im NRW-Landtag (M.), und der Herner Landtagsabgeordnete Alexander Vogt (r.) lassen sich die Produktion von runderneuerten Reifen erläutern. © Börge Brauer

Außerdem monieren Stieblings, dass die Runderneuerten bei öffentlichen Ausschreibungen nicht mit einer Mindestquote vorgeschrieben sind, obwohl sie gerade mit Blick auf die Nachhaltigkeit die genannten Vorteile hätten. Im Ruhrgebiet, so Alexander Stiebling, sei die Akzeptanz aktuell sehr hoch, sowohl ÖPNV-Unternehmen - wie die HCR oder die Bogestra - oder städtische Entsorgungsunternehmen setzten hier stark auf die Runderneuerung. „Das ist ja die öffentliche Hand. An dieser Stelle muss sie einfach in Sachen Nachhaltigkeit glaubwürdig sein“, sieht Ott auch deutschlandweit öffentliche Unternehmen in der Pflicht. Eigentlich seien runderneuerte Reifen das klassische Beispiel für den Nutzen des Klimatransformationsfonds. Wenn man die Wirtschaft klimaneutral umbauen wolle, müssten solche Produkte unterstützt werden. Realisierungs-Chance? Ungewiss!

Statt Neubau Modernisierung und Vergrößerung des Filialnetzes

Diese umfassende Ungewissheit trägt offenbar dazu bei, dass die Runderneuerung statt Richtung Wachstum zu rollen nun den Rückwärtsgang eingelegt hat. Einige andere Mittelständler hätten bereits aufgegeben, so Christian Stiebling. Davon ist man beim Herner Unternehmen weit entfernt, doch die rund fünf Millionen Euro, die für den Neubau einkalkuliert waren, nutzen Stieblings nun lieber für die Vergrößerung und Modernisierung ihres Filialnetzes.