Herne. Jedes dritte Herner Kind ist arm: Was die Politik nun tun will, weshalb das auf Zweifel stößt und warum die Stadt enttäuscht von Parteien ist.
Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland und nahezu jedes dritte Kind in Herne wachse in Armut auf, stellt die Verwaltung in einer aktuellen Vorlage fest. Die Pandemie und die Inflation hätten die Situation für arme Familien noch verschärft. Trotz begrenzter Einflussmöglichkeiten wollen Stadt und Politik das Problem stärker als bisher in den Blick nehmen: Durch Einführung einer „Kids-Card“ und weitere Projekte sollen Betroffenen gezieltere und mehr Angebote zur Teilhabe gemacht werden.
Das ist das Ergebnis einer „Zukunftskonferenz“, die Schulausschuss, Sozialausschuss und Ausschuss für Kinder, Jugend und Familie am 13. September vergangenen Jahres gemeinsam im Kulturzentrum durchgeführt haben. Ein daraus resultierendes Maßnahmenpaket ist jetzt in allen drei Ausschüssen einstimmig beschlossen worden.
„Das Aufwachsen in Armut begrenzt das Leben von Kindern und Jugendlichen und beschämt sie“, sagte Holger Närrlich vom Fachbereich Kinder-Jugend-Familie am Mittwoch in der Sitzung des Sozialausschusses. Die Stadt begrüße deshalb die Initiative der drei Ausschüsse. Der Vorstoß trage auch dazu bei, das Thema zu enttabuisieren und der Herner Gesellschaft deutlich zu machen, dass Kinderarmut ein soziales und kein individuelles Problem sei.
Schulmaterialien vor Ort, mehr Unterstützung bei der Sprachförderung
Folgende Vorschläge aus der Konferenz sollen nun konkret geprüft und möglichst umgesetzt werden:
– Einführung einer „Kids-Card“: Diese soll allen Kindern und Jugendlichen die Teilhabe an sozialen sportlichen, gesundheitlichen, kulturellen und mobilen Angeboten ermöglichen. Dazu seien die technische Umsetzbarkeit, Finanzierungsmöglichkeiten sowie die Beteiligung potenzieller Partner zu prüfen.
– An einer noch zu benennenden Grundschule soll ab dem Schuljahr 23/24 erprobt werden, Eltern und Kindern mit Anspruch auf Beihilfen bei Bedarf die Schulmaterialien direkt vor Ort in der Schule anzubieten.
– Kinder, bei denen im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung ein Sprachförderbedarf festgestellt wurde, sollen durch Sprachmittler, Übergangsprojekte und Bildungspaten vorrangig Unterstützung erhalten.
In einem Turnus von zwei Jahren sollen zudem gemeinsame Sitzungen der drei Ausschüsse zum Thema Kinderarmut unter Beteiligung von Fachkräften stattfinden.
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So weit die Theorie. In der Praxis, sprich: im Sozialausschuss wurden auch leise Zweifel an der Umsetzung laut. Der Befürchtung von Dorothea Schulte (Grüne), dass künftig alle zwei Jahre ein Treffen stattfinde und sonst wenig bis nichts passiere, begegnete die Stadt mit dem Hinweis, dass sich bereits Anfang Juni eine ämterübergreifende Gruppe bei der Stadt treffen werde. Dabei würden weitere Schritte verabredet. Sozialdezernentin Stephanie Jordan kündigte zudem an, dass die Stadt im Herbst einen Zwischenbericht über das Erreichte und mögliche Hürden geben werde.
Moritz Ritterswürden (FDP) stellte unter Verweis auf den jüngsten Reinfall beim Verteilen von Sportgutscheinen die Frage in den Raum, ob eine „Kids-Card“ ein geeignetes Instrument sei. Hintergrund: Der Stadtsportbund hatte berichtet, dass eine von Sponsoren finanzierte Erstklässler-Aktion „Gutscheine für Sportvereine“ trotz großer Bemühungen bisher ein Mega-Flop sei.
>>> Stadt ist enttäuscht über Resonanz aus der Politik
Im Sozialausschuss betrieb die Verwaltung Vergangenheitsbewältigung in Sachen „Zukunftskonferenz“. Holger Närrlich ließ deutlich anklingen, dass die Stadt angesichts „der Brisanz des Themas“ enttäuscht gewesen sei von der Resonanz.
In Zahlen: Insgesamt mehr als 160 Einladungen gingen damals raus an alle Mitglieder der drei Ausschüsse sowie an weitere von Parteien benannte Kommunalpolitiker und Sachverständige. 91 Menschen nahmen letztlich an der Konferenz teil, zehn Eingeladene sagten bei der Stadt ab, 64 blieben der Konferenz ohne Absage fern.
Andreas Nowak (SPD) räumte ein, dass Politik hier künftig mehr Präsenz zeigen müsse, gab den Ball aber auch an die Verwaltung zurück. Die Terminplanung der Stadt sei schlecht gewesen, weil am selben Tag eine Sitzung des Sportausschusses stattgefunden habe.
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